Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Magazine Article 1978

Das absolute Musikgehör:

Privileg einer Minderheit?

1978.07

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Last revised 98.10.31

(mit Lisbeth Hurni-Schlegel, Markus Stucki und Ursula Kaufmann-Jungen)

Die Weltwoche Nr. 5 vom 1. Februar 1978, S. 63, Wissen - Forschung - Medizin

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[Zeitschriftenaufsatz]

Die Autoren dieses Artikels, Lisbeth Hurni-Schlegel, Markus Stucki und Ursula Kaufmann-Jungen, studieren am Psychologischen Institut der Universität Bern und haben sich in zwei empirischen Untersuchungen, welche von Prof. Alfred Lang betreut wurden, mit dem Phänomen des absoluten Musikgehörs auseinandergesetzt.

Wie häufig ist das absolute Musikgehör bei Jugendlichen anzutreffen? Besteht ein Zusammenhang mit der musikalischen Aktivität? Ist das absolute Musikgehör gar erlernbar? Wichtige Einsichten zu diesen und ähnlichen Fragen haben zwei Untersuchungen am Psychologischen Institut der Universität Bern eröffnet.

Schwer erklärbare Phänomene werden schnell und gern Gegenstand von Spekulationen aller Art. Dies gilt auch für das absolute Musikgehör. Wer es besitzt, erregt--besonders in Musikerkreisen--Bewunderung und oft auch Neid, hält man doch diese Fähigkeit für äusserst selten. Dabei herrscht allgemein eine unklare Vorstellung darüber, was unter absolutem Musikgehör überhaupt zu verstehen ist.

Das Phänomen gibt auch der Wissenschaft Probleme auf, die grösstenteils noch ungelöst sind. Unklar ist beispielsweise, welche qualitativen und quantitativen Leistungen ein Absoluthörer erbringen soll. Darüber, ob er Töne nur erkennen muss oder ob er auch ihm genannte Töne soll singen können, besteht zwar weitgehend Einigkeit: nur das Erkennen von Tönen ist relevant; schliesslich spricht man ja vom «absoluten Musikgehör» und nicht vom «absoluten Singen». Sehr uneinig ist man sich hingegen darüber, wieviele Fehler einem Absoluthörer gestattet werden sollen. Muss er Töne mit 99 Prozent Sicherheit richtig erkennen, oder darf sein Musikgehör auch noch als absolut gelten, wenn er Tone mit 85prozentiger Sicherheit erkennt? Bis dahin ungelöst ist ferner die Frage, welcher Mechanismus dem absoluten Musikgehör zugrunde liegt: handelt es sich um einen Wahrnehmungsprozess oder bloss um eine besondere Gedächtnisleistung?

Das Ausmass solcher Unklarheiten kann eigentlich nicht verwundern, liegen doch bis heute noch keine grösseren repräsentativen Untersuchungen dazu vor, sondern lediglich auf Einzelbeobachtungen beruhende Spekulationen. Die wenigen gesicherten Erkenntnisse dürfen allerdings nicht übersehen werden. So gelang der Nachweis, dass Personen mit einem sogenannten absoluten Musikgehör sehr kleine Tonhöhenunterschiede keineswegs besser wahrnehmen als andere und dass sie demzufolge auch nicht reiner intonieren können. Fest steht auch, dass eine unterschiedliche Klangfarbe das präzise Erkennen von Tönen beeinflusst; Klavier-, Klarinetten-, Orgel-, Violin- oder künstlich erzeugte Sinustöne werden in ihrer Höhe unterschiedlich gut eingeschätzt. Nach kanadischen Untersuchungen vermögen selbst Musiker, die als Absoluthörer gelten, richtig gestimmte Intervalle von falsch gestimmten nicht so gut zu unterscheiden wie man gemeinhin annimmt. Auch lösen sogenannte Absoluthörer Aufgaben, bei denen ein vorgegebener Ton über längere Zeit im Gedächtnis behalten und dann mit einem anderen Ton verglichen werden muss, nicht besser als «Normalhörer».

Alle diese Ergebnisse scheinen die Grenze zwischen Normal- und Absoluthörern zu verwischen. Dass sogenannte Absoluthörer knifflige Tests und Aufgaben nicht besser meistern als andere Personen auch, legt die Frage nahe, ob sie gar nicht solche «Wunderkinder» seien, wie man anzunehmen versucht ist.

Tatsächlich erweist sich die Fähigkeit, Töne richtig zu erkennen, als keinesfalls so rar. Jedenfalls stellen Personen, bei denen diese Fähigkeit extrem schwach vorhanden ist, beinahe eine ebenso grosse Ausnahme dar wie jene, bei denen sie extrem stark ausgebildet ist. Dies hat eine repräsentative Untersuchung bei Jugendlichen in der Stadt Bern eindeutig gezeigt. Schülern der fünften, siebten und neunten Klasse der Primar- und Sekundarschulen sowie des Gymnasiums wurde die Aufgabe gestellt, dreissig Töne zu identifizieren. Ein von L. Hurni-Schlegel speziell entwickelter Test verhinderte dabei, dass bei der Bestimmung der Töne das relative Musikgehör benutzt werden konnte. Die zu benennenden Töne konnten also nicht mit einem Standard- oder Referenzton verglichen werden.

Von den 451 getesteten Jugendlichen haben 320 (71 Prozent) acht und mehr Töne richtig bestimmt, wobei Halbtonfehler toleriert wurden (Bild 1). Diese Leistung kann aufgrund der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht mehr als zufällig, d. h. durch blosses Erraten bedingt, gelten. Dies um so mehr, als in den Tests Sinustöne verwendet wurden, die nachgewiesenermassen schwerer zu identifizieren sind als auf Instrumenten erzeugte Töne. Die 320 Jugendlichen verfügen demnach offenbar über die Fähigkeit, Töne absolut zu bestimmen--eine beachtliche Zahl, die den Schluss nahelegt, dass diese Fähigkeit keinesfalls so selten ist, wie meistens geglaubt wird.

Handelt es sich hier aber wirklich um Personen mit absolutem Musikgehör? Die Frage muss bejaht werden, wenn unter «absolut» die Art und Weise der Tonbestimmung oder anders gesagt die Fähigkeit verstanden wird, isoliert gegebene Töne ohne äussere Hilfsmittel zu bestimmen. Anders verhält es sich, wenn man den Begriff «absolut» als ein Leistungskriterium auffasst und daran etwa die Forderung knüpft, beispielsweise 28 von 30 Tönen richtig zu benennen. Die Ansichten darüber, welche Leistung ein Absoluthörer erbringen muss, differieren nun in der wissenschaftlichen Literatur stark: das Spektrum geforderter Richtigkeit erstreckt sich von 8,33 Prozent (Wellek, 1963) bis zu 100 Prozent (Lundin & Allen 1962).

Wie die Berner Untersuchung deutlich zeigt, sind diese Kriterien rein willkürlich und im Grunde unberechtigt. Eine positive Ausnahme bildet eigentlich nur jenes Kriterium, das Wellek vertritt: «Erst wo die Trefferhäufigkeit nahe an die Zufallsgrenze (im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung) streift, kann nicht mehr von absolutem Gehör gesprochen werden; denn wenn einmal zugegeben ist, dass dieses so wenig unfehlbar sein kann wie irgendeine andere Sinnesfunktion, dann kann man unmöglich bei irgendeiner Fehlerzahl willkürlich eine Grenze ziehen.»

Stützt man sich auf dieses einleuchtende Kriterium, dann weist die Berner Untersuchung das absolute Musikgehör als Fähigkeit aus, die in einem bestimmten Grad jeder besitzt und die nicht als Privileg einer Minderheit zu betrachten ist. Mit anderen Worten ist das sogenannte absolute Musikgehör gar nicht so «absolut» (im Sinne von «fehlerfrei»).

Wie aber entsteht diese Fähigkeit? Ist sie auf erbliche Veranlagung zurückzuführen oder wird sie vom einzelnen erworben, erlernt? Ueber diese Frage haben sich im Schatten der Anlage/Umwelt-Kontroverse über die Entstehung der Intelligenz viele Forscher gestritten. Einerseits wurde--vor allem von Wissenschaftlern, die selber ein absolutes Musikgehör besassen -- behauptet, es handle sich um eine vererbte Fähigkeit, die schon in früher Kindheit auftrete, ohne dass sie speziell geübt werden müsse. Anderseits wurde die Auffassung vertreten, das absolute Musikgehör sei in jedem Lebensalter mit geeigneten Trainingsmethoden erlernbar; es stelle bloss die höchste Ausprägung einer Fähigkeit dar, die jeder mehr oder weniger erwerben könne. Nach etlichen empirischen Untersuchungen der letzten zwanzig Jahre wurden auch die Aussagen vorsichtiger. Man erkannte, dass das absolute Musikgehör nicht entweder vererbt oder erlernbar ist, sondern dass beide Elemente in schwer feststellbarer Weise zusammenwirken.

Die bereits erwähnte Untersuchung bei Jugendlichen der Stadt Bern ist auch dieser Frage ein Stück weit nachgegangen. Eindeutige Ergebnisse kamen jedoch nicht zustande. Zwar ist ein signifikanter Zusammenhang zwischen der musikalischen Aktivität der befragten Personen und ihrer Fähigkeit, Töne richtig zu benennen, deutlich geworden. Dieser Befund lässt jedoch verschiedene Interpretationen zu: Die Jugendlichen könnten deshalb musikalisch aktiv sein, weil sie von vornherein über ein gutes absolutes Musikgehör verfügen. Oder sie könnten umgekehrt deshalb ein gutes absolutes Musikgehör haben, weil sie musizieren.

Anderweitig gemachte wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben dass die Fähigkeit des absoluten Hörens mit geeigneten Trainingsmethoden verbessert werden kann--wie weit, bleibt allerdings unklar, da nur wenige Versuchspersonen nach dem Training eine ähnlich präzise Leistung erbringen konnten wie Personen mit einem guten absoluten Musikgehör. Auch dürfen die bisherigen Lernversuche nicht überbewertet werden, weil die verwendeten Untersuchungsmethoden einige Mängel aufweisen.

Bisher wurde die Trainierbarkeit des absoluten Musikgehörs nur bei Erwachsenen experimentell überprüft. Jetzt hat eine Untersuchung am Psychologischen Institut der Universität Bern festzustellen versucht, wieweit bereits Jugendliche die Fähigkeit des Absoluthörens mit Hilfe eines Trainings zu verbessern vermögen. 21 Jugendliche im Alter zwischen 11 und 15 Jahren, bei denen zunächst ein Vortest das relative und absolute Musikgehör gemessen hatte, absolvierten an fünf Tagen ein tägliches Training mit dem eigens entwickelten Gehörtrainer (s. Bild 3). Am sechsten Tag wurde wiederum der Gehörtest durchgeführt. Ein Vergleich der Unterschiede zwischen Vor- und Nachtest mit jenen einer Kontrollgruppe, die kein Training erhalten hatte, macht ersichtlich, dass bereits nach einem Training von fünf Tagen eine signifikante Verbesserung des absoluten Musikgehörs erzielt worden ist (vgl. Bild 2): Die mittlere Leistung der Trainingsgruppe verbesserte sich von 48,7 Prozent auf 66,8 Prozent richtig bestimmte Töne, wenn Halbtonfehler nicht gezählt werden. Zwei Schüler erzielten nach dem Training eine mit sogenannten Absoluthörern vergleichbare Leistung von 86,6 Prozent richtig bestimmten Tönen.

Untersucht wurde auch, wieweit die Kinder bei den nicht richtig bestimmten Tönen daneben getroffen hatten. Während sich einige höchstens um einen halben oder ganzen Ton täuschten, wiesen andere weit grössere Fehler auf; bei allen hat sich jedoch die Schätzgenauigkeit infolge des Trainings signifikant verbessert. Beachtlich ist, dass nach dem Training fast ein Drittel der 21 jugendlichen Versuchspersonen 90 Prozent aller vorgegebenen Töne höchstens einen Ton zu tief oder zu hoch einschätzten --eine Leistung, die vor dem Training niemand erbracht hatte. Es ist demnach unbestreitbar, dass das absolute Musikgehör schon bei Kindern und Jugendlichen trainiert werden kann. Dieser Befund dürfte vor allem für Musikpädagogen bedeutungsvoll sein.

 

 

Bild 1: So ist das absolute Musikgehör, gemessen mit dem Gehörtest, bei 45 Jugendlichen der Stadt Bern verteilt. Die Kontinuierlichkeit und insbesondere die Eingipfligkeit der Verteilung weisen darauf hin, dass jeder die Fähigkeit des Absoluthörens in einem bestimmten Grad besitzt.

[Zeitschriftenaufsatz]

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Bild 2: Ein Vergleich der Leistungen im Vor- und Nachtest zum absoluten Musikgehör zeigt, dass sich auch die Kontrollgruppe aufgrund der Gewöhnung an die Testbedingungen ein wenig verbessern konnte. Statistisch signifikant war jedoch nur die Verbesserung der Trainingsgruppe.

 

 

 

Bild 3: Der Gehörtrainer (entwickelt von Martin und Lisbeth Hurni) erzeugt auf einen entsprechenden Tastendruck hin einen zufälligen Ton aus dem Bereich der mittleren Oktave. Die trainierende Person versucht, die Tonhöbe zu bestimmen, indem sie die mit dem Tonnamen bezeichnete Taste niederdrückt. Wurde richtig gewählt, so wird der Ton unterbrochen (feedback). Auf Wunsch kann vor jedem zu bestimmenden Ton der Standardton C angehört werden. Auf den beiden oben angebrachten Zählern kann der Lernfortschritt abgelesen werden.

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