Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Book Review 1983

KLOPF, A. H. (1982): The hedonistic neuron: a theory of memory, learning, and intelligence. Hemisphere Publ. Corp. Washington. XVII + 140 S., kart.

1984.08

@EmpAnth

6.5 / 11KB  Last revised 98.11.01

Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen, 1984, 43 (3), 249-251.

© 1998 by Alfred Lang

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Obwohl direkte Antworten nicht gegeben werden, kann ich dieses Buch jedem zum Studium empfehlen, den Fragen wie die folgenden nicht loslassen. Wo ist der grosse Sprung in der Natur: vom Stofflichen zum Lebendigen oder vom Lebendigen zum Mentalen? Wie ist Autonomie von Gebilden (Organismus, psychische Organisation) möglich, die aus lauter heteronomen Elementen (Zellen, Begriffen oder andern Informationselementen) zusammengesetzt sind? Worauf kann beruhen, dass solche Gebilde homöostatisch sind und sich dennoch entwickeln? Haben (ikonische) Wahrnehmungen und begriflliches (symbolisches, zweiwertig-logisches) Denken die gleiche Grundlage? Ist die Gestalttheorie mit dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten vereinbar? Warum haben wir keine adäquate Gedächtnistheorie? Der Verfasser ist Hirn-Verhaltens-Wissenschaftler und hat, offenbar aus Unbehagen sowohl an der Neuroscience wie an der Artificial Intelligence seinen grundlegenden Neu-Orientierungsvorschlag erarbeitet.

Sein Buch ist ein echter Augenöffner. Es ist für mich ein zweites aktuelles Element des schliesslichen Vollzugs der kopernikanischen Wende auch im Bereich von Biologie und Psychologie. Unser bisheriges Denken ist hier immer noch so anthropozentristisch (und das heisst auch un-ökologisch) wie das Weltbild mit Erde als Mittelpunkt: der individuelle Organismus, das eigene Selbst, wie wir sie sehen und greifen und von innen erleben und den andern zuschreiben, ist nahezu absoluter Focus unseres Denkens. Im Rahmen des Neo-Darwinismus hat vor einigen Jahren Dawkins gezeigt, dass die Organismen, Arten und Gesellschaften nicht Ergebnisse, sondern Mittel der Evolution darsteilen, nämlich «Überlebensmaschinen für die Gene», wie er sagte. Klopf stellt in noch ausgeprägter revolutionärer Weise die Wissenschaften von den höheren Funktionen der Lebewesen auf den Kopf. Nach ihm sind Organismen Zellverbände, ähnlich wie Gesellschaften Verbände von Individuen sind. Anstatt, wie man es gewohnt ist, Fragen über Individuen und Organismen auf Antworten über Zellen und andere Mikroelemente zu reduzieren, nimmt er Verbände von Individuen (also Gesellschaften) als Modell zum Versuch, die Eigenschaften von Zellen zu verstehen. Neuronen insbesondere seien nicht autoregulierte Homöostaten, sondern zielorientierte «Heterostaten», nicht auf Ausgleich, sondern «hedonistisch» auf Maximierung von Zuständen angelegt, nämlich auf Maximierung von Exzitation (Depolarisation) und Minimierung von Inhibition (Hyperpolarisation). Da sie dabei auf förderliche äussere (ökologische, könnte man sagen) Bedingungen angewiesen sind (insbesondere exzitatorische Synapsen), gehen sie Verbände ein, genau wie Individuen sich vergesellschaften. Neurowissenschaft als gelehrige Schülerin der Psychologie! Das ist nicht ohne Reiz, und man könnte Effekthascherei vermuten, Erst recht, wenn man sieht, dass ausgerechnet die Grundbegriffe der Konditionierung zum Fundament weitreichender Ableitungen gemacht werden. Die Uberlegungen sind aber derart reich an Konsequenzen, vom Autor vielfältig, wenngleich keineswegs vollständig durchdacht, dass ich das ausschliessen muss. Themen wie Leib-Seele, Adaptation und Autonomie, Epilepsie, Schmerz und Lust und Angst, Habituation, Konditionierung, Bewusstsein, Hirnfunktionen, Selbst, Schlaf und Traum, Kybernetik, Artificial Intelligence und anderes mehr werden beleuchtet, dass der geneigte Leser unweigerlich weiterdenkt und weitersucht und nicht mehr losgelassen wird.

Am interessantesten vielleicht sind die Spekulationen zu Gedächtnis und Lernen. Ein Gedächtnismodell ganz neuer Art wird nicht gerade greifbar, aber rückt doch in den Bereich des Vorstellbaren: es ist inhaltsadressiert, dynamisch und auf eine Art und Weise redundant, dass die Kosten sich lohnen. Prozessor und Speicher der Computer-Metapher sind überwindbar! Auf einmal ahnt man, dass in diesem Funktionsmodell der psychischen Organisation Wirklichkeit werden könnte, was im Erleben so selbstverständlich und in der Logik so unmöglich ist: nämlich dass Ähnlichkeit eine eigenständige und nicht eine abgeleitete Kategorie sein könnte. Höchst bedenkenswert die so kühnen wie einfachen Konjekturen zu Bewusstsein und Selbst. Vollgültig die recht detaillierte Kritik an der AI-Tradition: es ist nicht gleichgültig, aus was für Bausteinen ein zielstrebiges (d.h. gerichtetes und intelligentes) System aufgebaut ist, wie dies die Turing-Maschinen-These postuliert. Es gibt zu denken, dass die Evolution den grösseren Teil der Zeit gebraucht hat, um Zellen in Verbände zu bringen, und nur einen Bruchteil davon, um sie mit der Vielfalt von Zentralnervensystemen und Intelligenz auszustatten.

Kritisch will ich anmerken, dass mir an einigen Stellen eine neutrale Terminologie lieber gewesen wäre. Die Generalisierung von Begriffen wie Schmerz und Lust auf das Neuron beispielsweise führt neue Anthropomorphismen ein, die der Überwindung der alten im Wege stehen könnten; allerdings sind sie ungleich oberflächlicher und deshalb leicht auszumerzen. Auch der Zielbegriff, im Zusammenhang mit Exzitationsmaximierung gebraucht, könnte Missverständnisse bewirken; es genügte, von Gerichtetheit auf ein Exzitationsmaximum zu sprechen. Die positive Rolle des positiven feedbacks, das einem ja sonst leicht in Verlegenheit bringt, wird gut dargestellt; doch wäre erwünscht, die Grenzen, auf die das hedonistische Neuron in seinem «Streben» stösst und die im wesentlichen durch seine Umgebung bestimmt sind, noch schärfer herauszuarbeiten. Denn auch hedonistische Systeme, solange sie in ihrem Systemverband eingebettet sind, laufen nur ausnahmsweise Amok, im eigenen Interesse gewissermessen. Bewusst muss man sich auch jederzeit bleiben, dass das Buch ein umfassendes Forschungsprogramm, eine grandiose Heuristik darstellt, nicht abgeschlossene Erkenntnis. Es macht aber recht deutlich, was man so gerne verdrängt, nämlich wie wenig wir heute tatsächlich über die psychische Organisation, psychologisch und biologisch, wissen. Wenn einer heute kommen kann wie der Kopernikus und mit guten Argumenten und unter Hinweis auf viel Material, das im neuen Zusammenhang ungleich besser zusammenpasst, unser so hektisches und in hunderttausenden von Publikationen niedergelegtes Wissen auf den Kopf stellen kann...

Alfred Lang, Bern

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