Alfred Lang

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University of Berne, Switzerland

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Necrologue

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Worte an der Abdankungsfeier für Richard Meili, 11.7.91.September 1991. (Vollständiger Wortlaut der 3 Reden von Fritz Streit, Klaus Foppa und Alfred Lang in Broschüre "Richard Meili 1900-1991", mit einer biographischen Notiz hrsg. von A. Lang) Bern, Psychologisches Institut.

 

Worte an der Abdankungsfeier für Richard Meili


 

Verehrte Anwesende! Liebe Gertrud, liebe Familie Meili und Verwandte, liebe Freunde und Gäste!

Mit dieser Wendung - -verehrte Anwesende -- pflegte Richard Meili seine Vorlesungen zu beginnen, fast scheu, mit leicht bedeckter Stimme, trotz vieler Jahre erfolgreicher Lehrtätigkeit. Er war kein brillanter Redner; aber er hatte etwas zu sagen. Und er lud damit die Anwesenden, die er vermutlich nur ausnahmsweise verehrte, aber sehr wohl achtete, zum Einstieg in seine Welt ein. Zum Mitdenken auf Wegen, die er sehr gründlich ausgesteckt und wiederholt überprüft hatte und dennoch offen liess. Es waren weder ausgetrampelte Pfade, die schon in jedem Lehrbuch standen, noch abenteuerliche Expeditionen in unerforschte Ideenlandschaften. Aber sehr anregende Reisen waren es, weil er eine heute selten gewordene Balance halten konnte zwischen der Vertiefung an wichtigen Orten und der Breite der Kenntnis von praktisch noch der gesamten Psychologie.

Er hatte wirklich etwas zu sagen. Und man spürte, dass es ihn selbst auch ganz und gar forderte, obwohl er das nicht zeigte. Er brachte viel Eigenes, persönlich Erarbeitetes und machte kein Aufhebens davon. Als Student in der Vorlesung konnte man versucht sein, die ä's zu zählen, die er vielen Wörtern am Schluss anfügte. Wir sagten, er hätte sie aus Genf mitgebracht. Verstand man, ihm mit Geduld zu folgen, so wurde man reich belohnt mit Einsichten in Zusammenhänge, die meistens hielten, was sie versprachen.

Meili war auch kein herausragender Seminarleiter. Nun ja, wir waren meistens auch nicht hervorragende Seminarteilnehmer. In nun auch schon einigen Jahren der Lehrtätigkeit -- Meili war fast genau in meinem jetzigen Alter, als ich mein Studium bei ihm begann -- habe ich freilich gefunden, dass eine gewisse Förmlichkeit , wenn sie nicht zu weit geht, manchmal auch eine Hilfe sein kann, und mich dankbar an Richards Vorbild erinnert. Entscheidend war aber wiederum das, was in seinen Seminaren an Denk- und Entwicklungsprozessen vor sich ging: er zeigte uns sein eigenes Denken, sein geduldiges, hartnäckiges, überprüfendes, suchendes und noch einmal überprüfendes Kreisen um eine Problemlage herum, bis plötzlich die Gestalt stimmte.

Ich glaube, er hat die Gestalttheorie nicht so sehr gedacht, sondern den Gestaltgedanken in seiner Denkweise verkörpert. So hat er wohl das Beste von seinen Berliner Lehrern Köhler, Wertheimer und Lewin mitgenommen und weitergegeben. Allzu bescheiden hat er uns nie auf seine Dissertation über die Gesetzmässigkeiten beim Ordnen von Gegenständen oder Gedanken hingewiesen, obwohl wir hunderte von Malen dieser von ihm so einsichtig aufgezeigten Ordnungskraft verfallen waren und uns hätten von ihr befreien wollen. Mein Mitassistent und ich mussten ihm nach solchen Lektüre-Einsichten regelrecht aufdrängen, dass wir einen Band mit seinen gesammelten Aufsätzen binden lassen und in der Bibliothek aufstellen konnten.

Am eindrücklichsten als Lehrer war Meili in den Fallseminaren für Diagnostik und Beratung.. Die Lebenslage, der Werdegang und die sämtlichen Testresultate der untersuchten Person mussten gründlich aufgenommen und vor der Gruppe umfassend dargestellt werden. Das brauchte viel Zeit. Und mit Recht so; denn was ist ein paar Stunden Untersuchung und Beratung im Verhältnis zu den wenigen oder vielen Jahren eines Lebens? Man musste begründen können, warum man dieses oder jenes erfragt, diesen oder jenen Test eingesetzt hatte; vom schematischen Testen hielt er nur so viel, als es das kritische Vergleichen verlangte. Und nach der Auslegeordnung der bekannten Tatsachen kam es zu diesem exemplarischen Vorgang des Zusammenbringens, des Vergleichens, des Aufhebens eines Widerspruchs im Lichte einer weiteren Tatsache oder des Stehenlassens eines Widerspruchs, sei es als Aufforderung zum Einholen weiterer Information, sei es, weil es zur menschlichen Kondition gehört und dieses bestimmte Individuum so kennzeichnen musste. Gemeinsam mit Meili hartnäckig Kreise geschlagen, bis wir auf einmal die ganze Person in ihrer Lebenslage erahnten. Es ging nicht um Fälle, es ging um Menschen. Für viele war es eine harte, nicht unmittelbar belohnende Schulung. Beglückend aber, wenn nach Abschluss der Beratung die Sache aufging, wenn Monate oder Jahre später Nachricht über die Stimmigkeit des Ganzen eintraf.

Auch in der Forschung zusammen mit Meili konnte man diese produktiven Reibungsverluste erfahren, die sich schliesslich als nötig erwiesen, sozusagen zur Erwärmung einer Problemlage. Der wissenschaftliche Dialog mit ihm schwankte, wie es natürlich ist, zwischen mühsam und begeisternd, verlor sich in Details und öffnete immer wieder Tore und Perspektiven; aber viele gaben wohl etwas zu früh auf. Er konnte seine eigenen Deutungen zurückhalten und doch im rechten Moment sehr prägnant und zwingend vorbringen. Was ihm schwer fiel, war das Lob, so wie er es eben auch mit sich selbst hielt. Viele Jahre brauchte ich und etwas Abstand -- mein leiblicher Vater war kurz nach meinem Studienbeginn gestorben; er war auch so ein eigenwilliger und kreativer "Bastler" am scheinbar Selbstverständlichen gewesen; und so war es nicht verwunderlich, dass Leiden und Freuden eines zweiten Vater-Sohn-Verhältnisses unsere Beziehung in gewisser Hinsicht kennzeichneten. Auf Gegenseitigkeit, durfte ich vermuten, obwohl er kaum je ein Wort darüber verlor. Aber dafür unsere Kinder bei Gelegenheit wie die eigenen Enkel bedachte. So war er halt, unser Richard Meili, dieser Asket mit sich selbst und oft auch mit den andern. Viele Jahre brauchte man und etwas Abstand, um ihn zu verstehen. Nur ganz selten, und kaum je im Institut oder gar öffentlich in Bern, konnte man mit ihm erfahren, was er in seiner Selbstdarstellung aus seiner Kindheit schrieb: in einer Fasnachtsnacht geboren, habe er es geliebt, den Clown zu spielen. Aber es kam vor, zum Beispiel im Kreis der engsten Mitarbeiter, gegen Ende langer Kongressabende etwa. Das ist schwer in Worte einzufangen; es war seine Haltung, seine Bewegungen, sein Lächeln. Statt der gewohnten Selbstkontrolle auf einmal eine leise Ironisierung seiner selbst. Er war sich selbst dann plötzlich näher. Und so zeigte er uns sein Vertrauen. Wenn ich eines bereue im Rückblick auf viele Jahre der wechselnd lockeren und engeren Zusammenarbeit und Freundschaft mit Richard Meili, so dies, dass ich nicht öfter und stärker versucht habe, diese wichtigen anderen Seiten seines Wesens aus ihm herauszulocken. Er zeigte zurückhaltend sein Denken; er versteckte sein Fühlen; es wäre ihm, zur angemessenen Zeit, ebenso gut angestanden.

Verehrte Anwesende, wir sind hier zusammengekommen, um eines bedeutenden Mannes zu gedenken, der uns und anderen in seiner Zeit viel gegeben hat. So würden wir gerne unseren Dank an ihn erstatten. Er ist von uns weggegangen, schon vor einigen Jahren, jetzt auch noch körperlich. Als Person, als Ideengestalt bleibt er bei uns, wird in vielen von uns hier Versammelten und in vielen andern noch langezeit nachwirken. Vielleicht stärker, als die meisten, die ihn gekannt haben, denken.

Alfred Lang

 

Biographische Notiz

Am 5. Juli 1991 ist nach längerer Krankheit in Gümligen bei Bern Prof. Dr. Richard Meili gestorben. Aus Schaffhausen stammend war Meili nach dem Studium in Jena, Bern und Berlin 1926-41 Assistent, Chef de Travaux und Dozent am Institut J.J. Rousseau und an der Universität Genf, 1942-48 Leiter der Berufberatung in Winterthur, 1949-70 Professor für Psychologie und ihre Anwendungen an der Universität Bern.

Als erster Inhaber eines ausschliesslich der Psychologie gewidmeten Lehrstuhls und als Gründer des ersten psychologischen Instituts an einer deutschschweizerischen Universität hat Meili während Jahrzehnten einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung des Faches in der Schweiz ausgeübt. Er war Mitbegründer und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychologie und ihre Anwendungen, langjähriger Redaktor der Schweizerischen Zeitschrift Psychologie und ihre Anwendungen und Verfasser und Mitherausgeber der massgebenden deutschsprachigen Lehrbücher der psychologischen Diagnostik und der experimentellen Psychologie sowie eines psychologischen Wörterbuchs. Durch seine Grundlagenforschung und durch seinen Brückenschlag und seine Impulse für die psychologische Praxis hat er ein aussergewöhnliches und internationales Ansehen gewonnen.

Zum Gedenken sind hier die drei an der Trauerfeier am 11.7.91 in Bern gehaltenen Ansprachen wiedergegeben. Fritz Streit, alt Vorsteher der Übungsschule des Seminars Muristalden in Bern, sprach als Freund der Familie; Klaus Foppa und Alfred Lang als Kollege bzw. Schüler des Verstorbenen. Die Zitate aus der Selbstdarstellung Richard Meilis in der Ansprache von Fritz Streit stammen aus Psychologie in Selbstdarstellungen, Band 1, hrsg. von L.J. Pongratz, W. Traxel und E.G. Wehner, Bern, Huber, 1972, S. 159-191. Eine Bibliographie der Publikationen Richard Meilis findet sich in zwei Teilen in der Schweizerischen Zeitschrift für Psychologie, Band 29 (1970) 7-15 und Band 49 (1990) 66-68.


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