Alfred Lang

University of Berne, Switzerland

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Newspaper Column 1991

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Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr. 91 vom 20.4..91, S.17

 

Spezialisten für das Ganze?


Die zunehmende Spezialisierung von Wissenschaft und Praxis gibt zu denken. Von Spezialisten aller Art erwarten wir, dass sie unsere Probleme lösen. Es zeigt sich aber immer klarer, dass viele Problemlösungen neue Probleme schaffen, für deren Lösung wir wieder neue Spezialisten einsetzen müssen, die wieder neue ... Schaffen Spezialisten schon mehr Probleme als sie lösen?

In Ermangelung einer geeigneten "Währung" und "Buchhaltung" lässt sich herrlich darüber streiten, ob die Bilanz aller Problemlösungen positiv oder negativ ausfalle. Progressive und konservative Fundamentalisten schwenken ihre bunten Fahnen in allen Parteifarben. Aber alle sehen sie ihre eigenen Fahnen weiss und die der andern schwarz.

Derzeit kann man Fahnenschlachten zwischen "Technologen" und "Ökologen" ausmachen. Die ersten verweisen auf die Qualität ihrer spezialisierten Problemlösungen: wie sie die Menschheit ernähren, wie sie die Krankheiten bekämpfen, wie sie die Gerechtigkeit vermehren, wie sie das Elend mildern können usw. Die zweiten wenden ein: aber ihr pflegt immer nur euer umzäuntes Gärtlein und meint, es sei die ganze Welt. Wunderbar das komfortable Leben; aber alle können es nicht so haben, sonst ersticken alle im Abfall! Herrlich die individuelle Freiheit; aber ist sie den Preis der Vereinsamung wert?

Technologen sind mit Recht stolz auf ihre Spezialisten-Leistungen; aber sie machen in jedem Sektor separate Bilanz. Ökologen verweisen auf die Nebenwirkungen aller Errungenschaften und fordern eine Global-Bilanz. Sie wenden den Blick aufs Ganze: der Haushalt geht offensichtlich nicht auf. Das Global-Defizit werde uns noch Kopf und Kragen kosten. Man müsse die Spezialisten kontrollieren, zähmen, einbinden.

Diesen Fahnenstreit gibt es, seit die Wissenschaften tüchtig wurden. Die Universitäten sind trotz ihres Namens zum Eldorado der Spezialisten geworden. Wer aufs Ganze achten will, wird leicht an den Rand gedrängt.

Doch hat man auch an der Berner Uni einiges zur Milderung des Spezialismus getan. Schon in den Fünfziger Jahren wurde das CollegiumGenerale geschaffen. In den letzten Jahren hat man die fächerverbindenden Institutionen der AkademischenKommission und der Koordinationsstelle für AllgemeineÖkologie geschaffen. Ihre Aufgabe besteht vereinfachend im Zusammenführen von Spezialisten, um die Berücksichtigung von Zusammenhängen zu fördern.

Gemessen an den bereitgestellten Mitteln sind diese Einrichtungen allerdings weniger als ein Tröpflein auf einen feuerheissen Stein. Ihr Wirken ist zu jung, um schon beurteilt zu werden. Hingegen ist es nicht zu spät, die Frage aufzuwerfen, ob der Einsatz von Spezialisten für das Ganze die klügste aller möglichen Massnahmen sei.

Ist denn eine zentrale Stelle für integrale Bezüge nicht recht "unökologisch" gedacht? Spiegeln wir in einer kleinen Koordinationsstelle nicht bloss die Problemlage, überfordern ihre Mitarbeiter mit einer übergrossen Aufgabe?

Etwas salopp behauptet ist ein Koordinationsinstitut eine typische Spezialisten-Massnahme. Man hat ein Problem erkannt -- man schafft dafür eine neue Institution und übergibt ihr die Verantwortung für die Lösung des Problems.

Mit dem ganzheitlichen Denken ist es aber wie mit der Ethik: es muss alles Handeln begleiten. Was wir brauchen, ist ein "Klima", in dem jede und jeder -- Wissenschaftlerin oder wissenschaftsgestützter Praktiker -- sozusagen ein ökologisches Ohr und einen holistischen Finger pflegt und in seiner Spezialistenarbeit mitspielen lässt. Wissenschaftler kann man nicht von aussen her einbinden; doch lässt sich dafür sorgen, dass sie von sich aus sich für das Ganze interessieren und dass sich ihre Rücksicht auf Zusammenhänge lohnt.

Ganzheitliches Denken gehört deshalb in die Muttermilch aller Studierenden und alle Akademiker sollten lebenslang wenigstens ein bisschen "süchtig" nach anderen Sichten auf ihr Tun bleiben. Wie könnte ein "ökologisches" Kooperationsprogramm zur Humanisierung des Spezialismus aussehen?

Alle Studierenden und alle vollamtlich Unterrichtenden an der Universität könnten das Recht und die Pflicht erhalten, einen Teil ihres Pensums interdisziplinär zu lehren und zu lernen.

Ein paar Reglementsänderungen wären zu vollziehen, eine kleine Vermittlungs- und Informationsbörse einzurichten: Kosten nahe null.

Professoren dürften und müssten jedes Jahr oder jedes Semester eine Ihrer Veranstaltungen gemeinsam mit Kollegen aus anderen Disziplinen machen. Fächerübergreifende Forschung und Unterricht sind nichts Neues; aber die Pflichtenhefte und akademischen Gepflogenheiten müssten sie vorsehen und belohnen. Als Regel, nicht als Ausnahme sollte gelten: immer wieder die Fahnen einholen, zusammen Milchsuppen kochen und essen, und dann koordinierte Fahnen zeigen.

Studierende haben bis über den Rand vollgepackte Stoffprogramme. Ein Abbau ist sowieso nötig. Wer sagt denn, was unentbehrlicher Lern-Stoff ist? Worin unterscheiden sich die Universitäten noch von höheren Spezialisten-Schulen? Könnten, müssten Studierende nicht auch ein bisschen "fremdgehen". Wäre das nicht ebenso unentbehrlich? Und übrigens: in welche Richtung geht die Europäische Universität?


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© 1998 by Alfred Lang, scientific and educational use permitted, last revised 98.03.05