Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Interview 1995

Warum Kulturpsychologie?

1995.04

@CuPsy

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Interview zum 60. Geburtstag am 29.1.95 von Katharina Matter

U.d.T. "Ist nicht grandiose Heuchelei entstanden?" in: Der Bund, Nr. 27 vom 2.2.95

© 1998 by Alfred Lang

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Der streitbare Berner Umwelt- und Kulturpsychologe ist kürzlichz 60-jährig geworden. Er ist ein Kritiker des bestehenden Wissenschaftsbetriebs und der Verfechter einer Psychologie, die das kulturelle Umfeld in ihre Begriffe, Methoden und Beurteilungen einbezieht. Im «Bund»-Gespräch betont Professor Lang die Notwendigkeit offener, kreativer und generationenübergreifender Dialoge.

Bund: Herr Lang, als Kulturpsychologe wollen Sie eine ökologische Perspektive in die Psychologie einbringen. Nun ist es doch so, dass dies die Sozialpsychologie seit rund dreissig Jahren tut, indem sie bei der Beurteilung das Umfeld einer Person beachtet. Was ist an ihrem Ansatz neu?

"Ökologisch" nennen wir Systeme, die Menschen als integrale Teile eines umfassenderen Lebenszusammenhangs verstehen. Nun sind da sicher die Mitmenschen ein wesentlicher Aspekt. Aber ist unsere Umwelt nicht auch physisch? Besteht aus Klima, aus Landschaft, aus vielerlei gestalteten Dingen, aus Gebautem, Häusern und Städten und Verkehr, etc.? Und ist sie nicht, als Umwelt der Menschen, insbesondere kulturell? Das heisst, eine von Menschen für Menschen gemachte Lebensform, im Lauf von vielen Generationen herausgebildet, in einer für jede kleinere oder grössere Lebenstradition einzigartigen Weise? Mit ihrer Sprache, ihren Gesten, ihrer Art von Dingen, Werkzeugen, Wohnweisen, etc.

Gewiss, auch die Sozialpsychologie berücksichtigt das kulturelle Umfeld, etwa in der Form von Institutionen, Werten und Normen. Aber wie die Menschen ihre Umwelt überformen, aus der "Natur" sozusagen überall "Kultur" machen (oder "Zuvielisation", wie einer mal gesprayt hat), das ist wieder ausserhalb ihres Bereichs. Und ist es nicht das, was uns Sorge macht? Durch menschliches Handeln ist ja die Oberfläche der Erde in einen Zustand gekommen, der Menschen und anderes Leben existentiell bedroht. Warum eigentlich kümmern sich die Psychologen (die Philosophen, die Soziologen, etc.) kaum um die Wirkungen menschlichen Handelns, des individuellen wie des kollektiven?

Die schon so zahlreichen Bindestrich-Psychologien wollen Sie also noch um eine Kulturpychologie vermehren?

Eigentlich gerade nicht, obwohl der Ausdruck "Kulturpsychologie" das nahelegen könnte. Der Anspruch ist umfassender. Mir scheint, Psychologie könne kaum ernsthaft anders als kulturbezogen gepflegt werden. Ich bin selber erschrocken, als ich das vor einigen Jahren realisierte. Ich denke aber wirklich, dass die moderne wissenschaftliche Psychologie weitgehend an der Tatsache vorbeiforscht, dass Menschen ebensosehr kulturelle wie biologische Lebewesen sind. Suchen Sie mal im Index von psychologischen Lehrbüchern nach dem Begriff "Kultur" oder in gängigen Wörterbüchern nach Ausführungen über deren Rolle in der Psychologie. Sie werden nahezu nichts finden.

Was verstehen Sie denn unter diesem Begriff der Kultur?

"Kultur" soll hier natürlich nicht bloss "Hochkultur" bedeuten, also gewissermassen den Abend- oder Sonntags"luxus" zur Entspannung vom anstrengenden Wochentag. Allgemein verweist der Begriff der Kulturalität auf die Tatsache, dass Menschen ihre Umwelt zu grossen Teilen selber machen. In einem jeweils einmaligen geschichtlichen Prozess. Eigentlich in einem verzweigenden "Baum" von kultur-evolutiven Prozessen, die wir dann als "Kulturen" viel zu sehr verdinglichen. Auch schon ein oberflächlicher Blick in verschiedene Teile der Welt zeigt, dass das sehr verschieden gemacht worden ist und offenbar also verschieden gemacht werden kann. Aber wie denn, wenn allgemeinmenschliche Gesetze das menschliche Erleben und Verhalten bestimmen sollen? Reiner Zufall ist doch das sicher auch nicht. Merkwürdigerweise konzentriert sich die wissenschaftliche Psychologie nach dem Vorbild bestimmter Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts bis heute darauf, nach den allgemeingültigen Gesetzmässigkeiten des menschlichen Erkennens, Fühlens und Verhaltens usw. zu forschen. Dazu betrachtet sie die kulturelle Variation eher als etwas Störendes; oder allenfalls als einen methodischen Trick, um das allgemeine aus dem zufälligen Besonderen herauszuschälen.

Sind es nicht die Ethnologen, die Kulturen beschreiben und vergleichen?

Natürlich. Viele Kulturpsychologen gehen von ethnologischen Erfahrungen und Einsichten aus. [Es reicht aber nicht, Kulturen zu beschreiben und zu vergleichen. Der Ausdruck "Kultur" ist in seiner sprachlichen Substantivierung eigentlich recht sehr irreführend. Es geht vielmehr um einen Prozess und darin einbezogene höchst unterschiedliche Formierungen oder Strukturbildungen und -wirkungen physischer, biotischer und symbolischer Natur. Man kann zwar vergleichend verschiedene "Kulturen" wahrnehmen; aber keine von ihnen ist wie ein Ding zu fassen und scharf von anderen abzugrenzen. Kulturelles finden wir sowohl in der gestalteten Welt von Vorgängen und Dingen "zwischen" den Individuen wie "in den Köpfen" der sie lebenden Menschen in Form von Gewohnheiten, Wissen, Wertungen, Erwartungen usw. Kulturalität ist mithin für eine Gemeinschaft und ihre Mitglieder ungefähr das, was man beim Menschen im allgemeinen wie im individuell-besonderen als "Seele" oder als "psychische Organisation" bezeichnet hat. Zu Personen werden Menschen durch Kultivation, dh durch artikulierende Übernahme aus angebotenen kulturellen Mustern und einen, wie immer bescheidenen oder bedeutenden, Beitrag zur Weiterbildung solcher Muster.]

Die Sorge einer noch kleinen, doch wachsenden Zahl kulturorientierter Psychologen ist, dass die meisten Grundbegriffe der psychologischen Wissenschaften und auch ihre Methodiken schlecht dafür geeignet sind, den historischen und kulturellen Tatsachen der menschlichen Kondition gerecht zu werden. Es ist ein bisschen ähnlich wie bei den individuellen Unterschieden: um Individuen beschreiben und verstehen zu können, braucht man auch eine Allgemeine Psychologie. Nicht so sehr um aufzuzeigen, was allen Menschen gemeinsam ist; vielmehr um jene Grundprozesse zu kennen, aus denen das Besondere, d.h. das Menschliche in seinen individuellen Erscheinungsvariationen konstituiert ist. Das Besondere aus dem Allgemeinen ableiten zu wollen, ist aber nicht nur logisch unmöglich; es wertet auch seine Besonderheit eigentlich ab, ja es verleugnet es eigentlich. Was sind also die Bedingungen, welche die einen zu Menschen machen, die Güter produzieren und anhäufen, sogar um den Preis der Selbstzerstörung; anderseits Menschen, welche sich bis zur Selbstaufgabe für Ideen wie die der Gerechtigkeit einsetzen; andere, welche sich jedem Fanatismus hingeben, um auch andern ihre Unterwerfung unter einen religiösen oder politischen Führer aufzuwingen. Und sie tun solches nie allein. Selten gut überlegt; auch nicht einfach aus einem Gefühlssturm. Glauben Sie dass wir heute solche Vorgänge verstehen?

Geht man denn heute in der Psychologie immer noch davon aus, dass der Mensch wirklichkeitsgetreu abgebildet und mit Gesetzmässigkeiten erfasst werden kann.

Darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Psychologen haben den Pluralismus, also die Vielfalt der Ansätze, der unterschiedlichen theoretischen Ansätze auf ihre Fahnen geschrieben. Alles scheint zu gehen. Gleichzeitig wird aber auf eine ganz bestimmte Art Methodik geradezu dogmatisch Wert gelegt: nämlich Versuchspersonen in einer kontrollierten Situation reagieren zu lassen und aus solchen Reaktionen (und seien es Fragebogen-Antworten) Rückschlüsse in Form von allgemeingültigen Erkenntnissen zu ziehen. Wenn sich Ergebnisse statistisch absichern lassen, werden diese Schlüsse als allgemeingültige Empfehlungen hingestellt, auf welche deren Anwender sich verlassen können sollen.

[Ich habe da zwei Probleme: erstens, auf welchen Ansatz soll ich mich denn einlassen? Wenn die Ergebnisse zwar gesichert, aber auf Grund einer willkürlichen Ansatzwahl und Methodik zustandegekommen sind -- bin ich da nicht ähnlich unsicher wie ohne diese Ergebnisse? Oder eigentlich irregeführt?

Und zweitens, wenn diese Methodik die Forscher nötigt, ihre Untersuchungen in sehr speziellen Situationen durchzuführen, ohne dass irgendetwas anderes als die gerade hochgehaltene Forschungstechnik und -strategie dazu zwingen würde, die Menschen in einer psychologischen Forschungs-"Kultur" statt in ihrer eigenen Lebenskultur zu untersuchen -- soll ich mich dann wirklich auf die Übertragung solcher Ergebnisse aus einer sehr künstlichen Subkultur ins allgemeine Leben verlassen?]

Wird ein Psychologe in der Praxis die nötigen Relativierungen nicht selbst machen können?

Ja sicher, oder vielmehr: hoffentlich. Und natürlich tun oder versuchen sie es. Aber es entsteht dann schon ein auf die Dauer unterträglicher Graben zwischen dem, was ihnen Wissenschaft und Ausbildung bieten und einfordern, und dem, was sie tatsächlich als verantwortungsvolle Praktiker tun wollen. Eben zum Beispiel den kulturellen Rahmen, die Lebensform dieser oder jener Menschen zu berücksichtigen.  

Und der ökologische Ansatz bietet hier einen Ausweg?

Das will ich gerne hoffen. Und zwar mit wissenschaftlichen und mit ethischen Gründen. Sehen Sie, ich bezweifle, um das Ethische vorwegzunehmen, dass es die menschliche Kondition, unsere Lebensformen, wirklich verbessert, wenn wir ähnliche Vorgehensweisen, wie wir auf Steine, Flüsse, Stücke Holz oder Metall, Tiere und Pflanzen und dergleichen anwenden, auch bei unseren Mitmenschen zum Tragen bringen. Und dann noch mit dem Anspruch von Professionalität. Wissenschaften haben, schon in der Antike und erneut seit Renaissance und Aufklärung, wesentlich einen Aufbruch aus versteinerten religiösen und politischen Zwängen eröffnet. Seit der Aufklärung hat man der individuellen Person Freiheit und Würde versprochen und sie zunehmend zur fast bedingungslosen Selbstverwirklichung aufgerufen, bis gerade zu der Grenze der expliziten Schädigung konkreter Anderer. Angeblich auch gerade im allgemeinen Interesse.

Ist hier nicht eine grandiose Heuchelei entstanden? Am Sonntag glauben wir an ewige Wahrheiten und unseren freien Willen und am Werktag sollen wir uns auf die wissenschaftlich gesicherten "Natur"gesetze unseres Denkens und Fühlens und Verhaltens verlassen, als Individuen und im sozialen Verband. Lassen uns tatsächlich instrumentalisieren und funktional einspannen in eine hektische Maschinerie. Benützen auch wissenschaftsgestützte Methoden zu Auslese und Ausbildung und zur Optimalisierung der Zusammenarbeit und zur Maximalisierung der Leistung. 

Auch die Sozialwissenschaften dienen nach Ihrer Meinung der Erhaltung und Konsolidierung der Macht der herrschenden Gesellschaftsschichten?

Ja. Denn es bleibt ja ein zunehmender Anteil unserer Mitmenschen als Opfer des Aufschwungs auf der Strecke, welche die Pace nicht mithalten können und auf die eine oder andere Weise krank oder "sauer" werden; oder dreinschlagen, weil sie ja nichts mehr zu verlieren haben. Wir üben mit unserer modernen Lebensform einen unglaublichen Druck auf uns alle aus; eigentlich wollten wir den Zwängen religiöser, sozialer und politischer Schemata entkommen. Wir versuchen dann diese Opfer unseres kollektiven Tuns durch ein ebenso durchorganisiertes "Auffangnetz" finanzieller und sozialer Hilfe vor dem Schlimmsten zu bewahren. Und denen, die ihre „Selbstverwirklichung" zu weit treiben, müssen wir die Freiheit erst recht wegnehmen.

Viele Psychologen bieten sich als Reparateure der Gestressten an und auch als Optimalisierer und Maximalisierer der noch nicht ausreichend perfekt und super Funktionierenden. Warum lassen wir es überhaupt so weit kommen? Warum wenden wir nicht unsere Kräfte und Einsichten und auch unsere Wissenschaften auf das Herbeiführen von Lebensbedingungen, welche solche Opfer unwahrscheinlicher machen? Warum nehmen wir z.B. drei oder acht oder zwölf Prozent Arbeitslose hin und rationalisieren die Arbeit immer weiter? Wie wenn das ein "Natur"gesetz wäre? Oder etwa gar ein "Kultur"gesetz?! Und, bitte, Arbeit wird doch doch für das gehalten, was in diesen Industriegesellschaften einen Menschen überhaupt erst zu einem Menschen macht! [Ehrlicherweise muss man also entweder allen Arbeit verschaffen, mit der Ergebnis einer Ver-Ameisung der Menschen; oder, wenn man das nicht kann oder das Ergebnis vermeiden will, dann muss man diese seltsam absolutistische Norm schleunigst aufgeben und Lebensformen suchen, welche das Individuelle mit dem Kollektiven in Balance halten.]

Was hat das mit dem ökologischen Ansatz und mit Kulturpsychologie zu tun?

Dass eine umgreifende Auffassung der kulturellen Bedingungen des menschlichen Daseins uns mehr veranlassen müsste, darauf zu achten, was für kulturelle Bedingungen wir herstellen, wollen und mit welchen Folgen, anstatt darauf, welchen Gesetzmässigkeiten Menschen gehorchen. Damit komme ich zu den wissenschaftlichen Gründen.

In meiner Schilderung der Lage meiner Wissenschaft -- die Sie ja gerne für etwas übertrieben nehmen können, wenn es Sie beruhigt -- steckt eine Anklage, dass wir die menschliche Kondition, also das Miteinander unseres Lebens und unserer Lebensbedingungen [und -wirkungen, die menschliche Kondition,] nicht angemessen verstehen. Es ist merkwürdig, dass die abendländische Geistesgeschichte geradezu exklusiv um das Problem der Wahrheit von Erkenntnis kreist; ein bisschen auch noch um die Frage nach dem richtigen Handeln, um die Ethik. Dabei ist in einer idealisierenden Attitüde der schönen Form der Erkenntnis häufig mehr Wert und Raum gegeben worden als den tatsächlichen Verhältnissen in der wirklichen Welt.

Aber in der gleichen Zeit haben wir abendländischen Menschen die Erdoberfläche und die Lebensformen radikal verändert und praktisch allen andern Menschen auf dieser Erde unsere Lebensformen aufgezwungen. Das heisst, deren Kulturen ziemlich arrogant gestört, wenn nicht zerstört. Etwa bestimmt durch Naturgesetze oder durch Gesetze des Sozialen? Das wollen Sie doch wohl nicht glauben. Ich meine, durch menschliches Handeln. Und zwar durch gleichartiges und durch arbeitsteiliges Handeln vieler Menschen im Verbund. Und nicht selten aufgrund von Behauptungen einiger, so müsse es gesetzmässig laufen. [Früher: die Weissen wären den andern voraus und müssten die andern voranbringen, sprich: ausbeuten. Heute: die Kulturen müssten sich durchmischen, das sei die allgemeine Natur des Menschen; jeder und jede könne tun, was und wo es ihr oder ihm beliebe. Sprich: unter Verweigerung von Verantwortung für das Ganze und die Zukunft seinen Eigeninteressen leben. Es ist, denke ich manchmal, wie ein fabriziertes Alibi, wohlbedacht und geschützt. Die Besessenheit der Philosophen mit den ewigen Wahrheiten und die Präokkupation der Psychologen und Soziologen mit den Vorbedingungen von Verhalten und Gesellschaft hat uns gewissermassen elegant von der Tatsache abgelenkt, dass es vor allem die Wirkungen des Handelns sind, welche die Welt veränderten und verändern. Während die einen nach den "ewigen" Sonntagswahrheiten suchten und suchen, ob religiös oder wissenschaftlich, konnten und können uns die andern umso eifriger und wirksamer den Boden unter den Füssen wegschaufeln und daraus ihre modernen Pyramiden auftürmen.

Irgendwie sind wir entgegen aller Erfahrung der Idee aufgesessen, wenn wir die Wahrheit hätten, dann würde auch die Tugend folgen. Aber wenn die Welt, die kosmische und die biotische und erst recht die kulturelle, etwas sich Entwickelndes ist, sollten wir dann nicht auch damit rechnen, dass ihre Gesetzmässigkeiten diesem Wandel folgen (müssen)? Der angebliche Besitz der Wahrheit -- obgleich angeblich erst morgen oder übermorgen, nach viel weiterer Forschung zu erreichen (wirklich?) -- hat die Wissenschaften und diejenigen, die sich ihrer bedienen können, gross und mächtig gemacht. Ich verneine nicht, dass es viele Gesetzmässigkeiten gibt, auf die wir uns mit guten Gründen verlassen; aber es wäre klüger, sie nicht für absolut und jedenfalls die psychologischen und kulturellen nicht für überdauernde zu nehmen. Besser unsere beschränkte Sicht auf die Entwicklung der Dinge uns selber klar zu machen und stets die möglichen und wahrscheinlichen Folgen unseres Tuns zu beachten.

Aber die Einsicht in die Zukunft ist uns doch verwehrt!

Genau das ist es ja. Denn der Besitz eines Gesetzes, eines Natur- oder Sozialgesetzes tut doch gerade so, wie wenn die Zukunft tatsächlich bekannt wäre. Anders wäre es kein Gesetz. Unsere Alltagserfahrung zeigt in der Tat, dass sehr vieles, doch nicht alles, seinen Regelmässigkeiten folgt. Aber sie zeigt auch: "und erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt". Und überdies lehrt sie, dass viele kleine Massnahmen, über die wir sehr wohl bestimmen können, letztlich ein Gefälle in viele Bereiche unserer Welt bringen, dem dann der Lauf der Dinge mit grosser Wahrscheinlichkeit folgt. Von den grossen Würfen und von den weiträumigen Planungen halte ich wenig. Sie gehen meistens an den Wirklichkeiten vorbei. Sie riechen zudem meistens nach dem Vorteil der einen zum Nachteil der andern. Erträgliches, ja erfreuliches Zusammenleben beruht auf Prozessen der gegenseitigen Beeinflussung. Dazu muss man einander kennen. Wenn ich andern etwas zumute, sollte ich damit rechnen müssen, dass sie mir etwas dagegen zumuten werden. Und damit können wir uns wechselweise zu Lösungen nötigen, die langfristig beiden und vielleicht auch nderen etwas bringen können. Die Welt ist von unten her für morgen zu rüsten; die Pläne von oben her bringen uns leicht in Not. Die verrechtlichten Institutionen teilen zu viel Macht zu, schützen diese meist einseitig und schaffen viel Ohnmacht.

Nehmen Sie zum Beispiel die Universität. Müssen wir wirklich das Anfüllen der Köpfe unserer künftigen Elite durch Studienordnungen und Prüfungsreglemente dermassen festlegen wie früher die Kirche durch Glaubensbekenntnisse? Man sagt, das helfe Konflikte vermeiden und es garantiere berufliche Professionalität. Aber es verschiebt doch nur die Konflikte und behindert das kostbarste Gut, das eine komplexe Gesellschaft haben kann: den kreativen Dialog zwischen der älteren und der jüngeren Generation derjenigen, welche so viel Verantwortung für die Generationen von Enkeln und Enkelsenkeln zu tragen bereit sind.]

[Dieser Text enthält gegenüber der gedruckten Fassung einige durch [] gekennzeichnete Beifügungen und kleine Verbesserungen. Die hier angefügten dreieinhalb Abschnitte vom Schluss des überarbeiteten Gesprächsprotokolls waren in der Druckfassung zugunsten von kurzen Passagen über Wohnpsychologie und Verrechtlichungsfolgen weggelassen worden.]

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