Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Unpublished Manuscript 1995

Allgemeine Thesen zum Verhältnis Individuum/Person-Gemeinschaft/Kultur

1995.07

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Thesen im Seminar im SS 1995 mit Rainer Schwinges: Das Werden der Person im Mittelalter

© 1998 by Alfred Lang

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We have no words that are prepared in advance to be fit for framing and expressing sound and tested ideas about the unity of the human being, the wholeness of the self. [...] We say that words are a means of communicating ideas. But upon some subjects, -- and the present one falls in this class -- the words at our disposal are largely such as to prevent the communication of the ideas. The words are so loaded with associations derived from a long past, that instead of being tools for thought, our thoughts become subservient tools of words.

John Dewey (1939) The unity of the human being. The Later Works Vol. 13:323

 

1. Die individuelle Person ist nicht etwas, was in der Geschichte einer Kultur erst spät herausgebildet und "entdeckt" werden kann; denn sie ist dem menschlichen, d.i. kulturellen Sozialsystem unabdingbar eigen. Nur ihre Erscheinungsformen wandeln sich in Abhängigkeit von den Darstellungs- und Rezeptionsmöglichkeiten der Kulturepoche und von der dann gerade üblichen gegenseitigen Anerkennung von Kollektivität und Individualität.

1.1. Individualität ist zunächst durch die Organisation von Lebendem in orts-kohärente und lebenslauf-konsistente Organismen begründet. Das impliziert bei allen komplexeren Tieren eine artspezfische Instinktausstattung jedes individuellen Organismus, welche nicht nur dessen Leben, sondern, zumindest bei geschlechtlicher Fortpflanzung, auch die Sozialität dieser Inidividuen begründet. Diese kann mehr oder weniger ausgeprägt sein, zB auf Partnerfinden, Präferenz, Werbung und Begattung beschränkt, oder auch Brutpflege und Aufzucht einschliessen und Lebensfunktionen wie Ernährung, Verteidung, Körperpflege, Ertüchtigung, Nestbau u.a. umfassen. Komplexere Tiere sind in völlig vereinzelter Lebensweise nicht bzw. nur temporär existenzfähig. Sozialität ist also zunächst eine biotische Errungenschaft; soziale Instinkte sind auch beim Menschen wirksam, ja unentbehrlich, wenngleich meistens und normalerweise weniger zwingend.

1.2. Instinktgetragene Sozialität wird bei vielen Tierarten überformt durch individuelles Gedächtnis oder die von jedem Individuum in seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt im Lauf seines Lebens akkumulierten und integrierten Erfahrungen, insbesondere auch der sozialen Erfahrungen mit den Artgenossen im sozialen Verband. Die Erfahrungen werden "im" Gedächtnis zeichenhaft dargestellt, besser, die Erfahrungen "schreiben oder verbessern einen Gedächtnistext", und werden somit vermittelt verfügbar, nicht in erster Linie wiederholbar, vielmehr transferierbar und generalisierbar. Die Möglichkeiten begründeter Erwartungen über das wahrscheinliche Verhalten der individuellen Anderen prägt das soziale Geschehen der Tiergemeinschaften solcher Arten und begründet im Vergleich mit den nur instinktgetragenen eine wesentlich grössere Flexibilität soziale Prozesse.

1.3. Denn seine Artgenossen oder Artfremde in der Lebensgemeinschaft an morphologischen oder verhaltensmässigen Merkmalen als Individuen voneinander unterscheiden und identifizieren und behandeln zu können, hat wohl nur dann den beträchtlichen Investitionsaufwand in neuronale Gedächtnisträger hervorbringen und erhalten können, wenn dadurch Vorteile für die eigene Lebenstüchtigkeit bzw. Fortpflanzungsfähigkeit gewonnen worden sind. Das wäre nicht der Fall, wenn von den individuellen Merkmalen nicht auf individuelle Potentiale und bestimmte Möglichkeiten der Interaktion generalisiert und damit die Lebenschancen verbessert würden. So lernt das Zebrafohlen das Streifenmuster seiner Mutter in den ersten Lebensminuten unter den tausenden in der Herde eindeutig kennen; bei den zu tausenden auf einem Felsen nistenden Trottellummen beginnt der Austausch von individuellen Passwörtern in Form von Lautäusserungen von Eltern und Jungvogel gar noch im Ei. Ähnliches gilt noch einmal vom Erkennen und Nutzen der aktuellen Befindlichkeit von Artgenossen, von der Paarungsbereitschaft bis zu den interaktionsrelevanten Emotionen.

1.4. Individuelle Gedächtnisse müssenvon jedem Individuum einzeln aufgebaut werden und gehen bei ihrem Tod verloren. Doch insofern die Bioevolution mittels Gedächtnisbildung innerhalb von Organismen Individualevolution schafft, eröffnet sie auch den Weg zur Kulturbildung. Kommt nämlich weiter die Möglichkeit hinzu, dass Individuen ihre Erfahrungen und was damit zusamamenhängt auch ausserhalboder zwischen ihren Organismen in einer Gemeinschaft zeichenhaft zur Darstellungen bringen können, so dass sie für andere zugänglich, wiedererkennbar und nutzbar werden, so müssen diese Erfahrungen nicht von jedem Individuum von null auf erworben, sondern können auch über ihre zeichenhaften Darstellungen vermittelt aufgenommen werden. Externe oder kollektive Darstellungen in Koordination mit internen oder organismischen Gedächtnissen sind die individuelle Basis jeder kulturell-sozialen Evolution.

1.5. In menschlichen Gruppen, dh im Zwischenfeld von kommunizierenden Individuen wird also die Kultur gebildet, und zwar in den Formen der Werk- und Kultzeuge, der Dinge und gestalteten Räume, der Sprache und Mythen, der Routinen und Rituale, der Normen und Institionen, der Präferenzen und Organisationen etc. Die wechselseitigen Kultivationen der internen und der externen Gedächtnisse in ihrer Geschichte ist es, welche daraus die kulturelle Gemeinschaft und die Personen der Individuen wie ihrer Organisationen bildet.

 

2. Im kulturellen System von zusammenlebenden Menschen bilden sich Personen im Verhältnis zu den anderen und mithin zur Gemeinschaft heraus. Personalität gewinnen Individuen, welche sich selbst im Verhältnis zu anderen darstellen -- einander "herstellen" -- und damit als ausreichend kohärente und konsistente Gegenüber Anerkennung finden. Personen sind semiotisch-ökologische Gebilde, die mit den anderen und mit den gemeinsamen Verhältnissen und dann auch mit sich selber strategisch umgehen können.

2.1. Man ist also nicht und hat nicht ein Selbst (wer denn könnte es sein oder haben?) und es ist nicht von einem Selbst wie von einer Substanz oder einer Essenz zu reden (was für Qualitäten könnte so etwas denn ausser seiner eigenen Charakteristik sonst noch tragen?). Vielmehr geht es um emergierende Momente eines interaktiven Geschehens, die einander wechselseitig bedingen und zusammen in einer gemeinsamen Geschichte fortwährend ein umfassenderes Ganzes konstituieren. Besser als Subjekte und Objekte in sprachlichen Sätzen, die je für sich bestehen können und im Verband einer ihrer Rolle inhärenten Asymmetrie unterliegen, könnten Ecken und Kanten in Vielecken solche Qualitäten veranschaulichen; denn sie können aus ihrem "Text" nicht herausgelöst werden, ohne dass sie selbst und ihr Ganzes verloren gehen; ihr Werden und Vergehen wäre freilich dazuzudenken.

2.2. In der abendländischen Denktradition wird seit dem 13. Jh. die individuelle Person diskutiert im Sinne eines eigenen Seinsmodus des esse morale (in Unterscheidung vom esse naturale und esse rationale). Als Subjekt des Handelns werden der individuellen Person Freiheit und Würde zugesprochen und entsprechend Verantwortlichkeit zugeschrieben oder auferlegt. Diese Idee hat das Menschenbild und die Rechtstradition im Abendland und seinem Einflussbereich vor allem seit der Aufklärung geprägt (vgl. Kobusch 1993). Eine schon ältere Setzung betreffend Notwendigkeit undWahrheit gilt dem Subjekt der Erkenntnis, in gewissem Sinne parallel - doch auch entgegengesetzt - infolge der Dialektik zwischen Freiheit und Notwendigkeit (volle Determination). Rationalität und Moralität stammen wohl beide aus Aspekten der Gottesvorstellungen; ins Irdische übertragen treten sie oft bloss als abstrakte Ideen auf (Seele, Geist); öfter sind sie, und mit variierender Ausschliesslichkeit, immer wieder der individuellen Person, aber auch Kollektiven (Volk, Nation, Menschheit) oder Institutionen (Staat, Kirche, Recht) zugeordnet worden ist. Der dritter Setzungsbereich, der Natur, und ein vierter, des Schönen, seien hier nur erwähnt; sie sind weniger weitgehend expliziert worden, haben jedoch als fast "magische" Reiche enorme faktische und normative Wirkungen entfaltet.

Kobusch, Theodor (1993) Die Entdeckung der Person -- Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Freiburg i.B., Herder. 300 Pp.

2.3. Es handelt sich hierbei um metaphysische Setzungen oder soziale Konstruktionen abendländischer Lebensformen, die trotz ihres kulturellen Charakters den Anstrich von in einer bestimmten Weise selbstverständlichen und allgemeingültigen Tatsachen erhalten haben. Sie begründen einen Satz von Dualismen (Geist-Materie, Subjekt-Objekt, Agent-Patient, Freiheit-Notwendigkeit etc.), welche für andere Kulturen der Welt durchaus eher untypisch sind. Sie führen in eine Reihe von Schwierigkeiten des Umgangs der Menschen mit ihrer Welt und mit sich selbst. Erkennbar wird dies etwa an der Dialektik des Herrschaftsanspruchs der Menschen über und ihres Beherrschtwerdens durch die Natur, an den zwischenkulturellen Kontroversen über die individuellen Menschenrechte (Galtung 1994) oder darin, dass man bei der Zuschreibung von Personalität zu sekundären Kriterien greifen muss. Denn paradoxerweise sah man sich genötigt, ein biotisches (also natürliches) Kriterium für diese höchst ideelle Konzeption der Person zu adoptieren: alle lebenden Individuen der Gattung Mensch, auch Säuglinge, Schwachsinnige und Handlungsunfähige, sollen Person haben oder sein; Kollektive oder Institutionen jedoch nur im übertragenen Sinn.

Galtung, Johan (1994) Menschenrechte -- anders gesehen. Frankfurt a.M., Suhrkamp. 235 Pp.

2.4. Könnte es sein, dass auch die modernen Vorstellungen über das Werden (oder die "Entdeckung") der Individualität der Person noch einen Ausfluss jener Entwicklungen des metaphysischen Denkens im europäischen Mittelalter darstellen? Welche Rolle spielten dabei Reaktionen auf die im Zuge der (Wieder-)Aufnahme naturwissenschaftlichen Forschens im Umgang mit den antiken Texten verunsicherten Gottesvorstellungen? In welchem Verhältnis steht das zunehmende Sprechenkönnen und -müssen über die individuelle Person zur wachsenden Vorherrschaft des vermittelten Realitätsbezugs, insbesondere durch Begriffe, welche das Allgemeine denkende individuelle Subjekte voraussetzen? Wie einflussreich ist ein Denken, welches das reale und relative Allgemeine der Natur (von der Natur in Repetitionen, Oszillationen, Gattungen u.a.) durch ein nominales und absolutes Allgemeines der Begriffe ersetzt, das Bedingte im Unbedingten einfangen möchte und dazu eben ein dieses denkende, obwohl oft jenes meinende Subjekt voraussetzen muss? Bei allem Wert der Rekonstruktion der Begriffs- und Ideengeschichte möchte ich aber vorschlagen, die Fragen der Personalität vor allem unter Bezugnahme auf das heute verfügbare biologische, psychologische und soziologische Wissen, was immer mangelhaft es auch sei, grundsätzlich empirisch anzugehen anstatt einen bestimmten Begriff der Person vorauszusetzen.

2.5. Für das Gewinnen eines umfassenderen Verständnisses, welches den vielen mit diesen Setzungen fliessenden Paradoxien zu entgehen eine Chance hat, scheint mir zunächst entscheidend, dass man alle essentialistischen und substantialisierenden Vorstellungen der Person ablehnt und dazu übergeht, Personalität als eine Emergenz bestimmter Sachverhalte zu verstehen. Begreift man, was uns überhaupt zugänglich ist, als "verschachtelte" Systeme in Interaktion, so lassen sich vereinfachend (Sub-)Systeme unterschiedlicher Eigenständigkeit unterscheiden:

2.6. Personen formieren einander im Dialog von Anbieten und Aufnehmen in einem gemeinsamen Milieu von Kultur, das eben durch die Strukturen und Prozesse dieses Austausches in Zeit und Raum gebildet wird und mithin die beteiligten Personen gemeinsam bildet. Dieser Vorgang der wechselseitigen Konstitution von Person und Kultur ist in einem weiten Sinn kommunikativ, dh ein Vorgang der räumlichen, dinglichen, symbolischen Generation von zeichenhaften Strukturen und ihrer selektiv-wertenden Aufnahme und Weiterführung.

Hinter dieser knappen Darstellung der dialogischen Evolution kultureller und personaler Systeme steht meine semiotischen Ökologie (Lang 1992, 1993, etc.). Sie verdankt Herder und Peirce entscheidende Impulse und Bekräftigungen und ist ein Versuch, die menschliche Kondition in ihrer kulturellen Geschichtlichkeit im physisch-biotischen System dieser Erde ohne dualistische Brüche auf Begriffe zu bringen.

Lang, Alfred (1993+) Handeln als Anbieten -- Lesehilfe zur semiotischen Ökologie (mit bibliogaphischen Angaben). Bern, Institut für Psychologie der Universität. 8 Pp.

Lang, Alfred (1992) Kultur als 'externe Seele' -- eine semiotisch-ökologische Perspektive. (Beiträge zum 2. Symposium der Gesellschaft für Kulturpsychologie, Mittersill, 9.-12.5.91.) Pp. 9-30 in: Christian Allesch; Elfriede Billmann-Mahecha & Alfred Lang (Eds.) Psychologische Aspekte des kulturellen Wandels. Wien, Verlag des Verbandes der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs.

Lang, Alfred (1993) Non-Cartesian artefacts in dwelling activities -- steps towards a semiotic ecology. Schweizerische Zeitschrift für Psychologie 52 (2) 138-147.

Lang, Alfred (1993) Das Semion als Baustein und Bindekraft -- eine einheitiche Semiosekonzeption von Struktur und Prozess, welche Zeit konstituieren und analysieren kann. Plenarvortrag am 7. Internationaler Kongress Zeichen und Zeit der Deutschen Gesellschaft für Semiotik. 6.10.93. Typoscr. 40 Pp. (Published 1998)

Lang, Alfred (1995) Hat oder ist oder wird man Person? -- eine evolutive Person-Kultur-Konzeption in der semiotischen Ökologie. Vortrag, Gemeinschaftsseminar der phil.-hist. Fakultät der Universität Bern zum Thema "Person, Persönlichkeit" am 8.-10. Juni 1995 in Münchenwiler. Typoscr. Handout 4 S.

2.7. Die Person als etwas Emergierendes zu begreifen ist nicht neu. Bei Herder und bei Peirce finden sich viele entsprechende Aussagen verbunden mit Kritik am zu weitgehend individualisierenden Personbegriff. Denn es ist keineswegs zwingend, die Idee der Personalität ausschliesslich mit individuellen Personen in Verbindung zu bringen und mithin die Zusprache von Personalität (und die damit verbundenen Vertantwortlichkeiten) an Gruppen bloss im übertragenen Sinn zu verwenden (Peirces Corporate Person, vgl. Colapietro 1989). Auch John Dewey und George Herbert Mead, beide von Peirce beeinflusst, verstehen "the individual self to grow out of assumptions about human nature as alive, evolving, embodied, and social." (vgl. Campbell 1995)

Campbell, James (1995) Understanding John Dewey -- nature and cooperative intelligence. Chicago, Open Court. 310 Pp.

Colapietro, Vincent M. (1989) Peirce's approach to the self: a semiotic perspective on human subjectivity. New York, State Univ. Press. 141 Pp.

Gidion, Jürgen (1954) Herders Persönlichkeitsbegriff. Diss.phil., Göttingen, 157 Pp.

 

3. Geschichte in der Kultur ergibt sich aus einer Dialektik von Personalität und Gemeinschaftlichkeit. Gemeinschaftserneuernde Impulse gehen ursprünglich von individuellen Personen aus oder stammen aus anderen Kulturen. Sie werden dann wirksam, wenn sie in der Gemeinschaft aufgenommen, repliziert, abgewandelt und in individuelle und kulturelle Strukturen verfestigt werden (individuelles und kollektives Gedächtnis). Kulturelle Strukturen (Dinge, Räume, Routinen, Präferenzen, Institutionen etc.) stabilisieren wesentlich die Gemeinschaft und die beteiligten Individuen. Im kulturellen Wandel bieten sowohl innovierende wie stabilisierende Momente infolge der sozialen Imitation nicht nur ihresgleichen erhöhte Entfaltungs- und Beharrungs-Chancen (Amplifikation oder positive Koppelung), sondern beide rufen auch ihre jeweiligen Gegenmomente (Antagonismen oder negative, regulative Koppelung) auf den Plan und können ihnen auf Dauer nicht ganz und gar widerstehen.

3.1. Diese Art von abstrakter "Gesetzlichkeit" von Geschichte erscheint in sich widersprüchlich, resultiert aber einfach aus der über verschiedene Subsysteme verteilten Interaktion. Sie erlaubt keine eindeutigen Vorhersagen der Zukunft. Kulturwandel ist offen evolutiv. Neue Errungenschaften können immer auch die Entwicklungsbedingungen verändern. Ein adäquates Verständnis der konkreten Entwicklungsbedingungen gestattet aber sehr wohl differenzierende Angaben über mögliche und unmögliche, wahrscheinliche und weniger wahrscheinliche Wege von kulturellen Traditionen.

3.2. In dieser Auffassung erscheint die Zukunft jeder Gegenwart als ein Satz von mehreren evolutiven Optionen; diese verlocken die verschiedenen beteiligten Personen und ihre Gruppierungen mit unterschiedlichen Perspektiven und geben ihnen unterschiedliche Chancen. Damit wird die Gegenwart zur Gelegenheit für die Beteiligten, durch ihr Handeln die eine oder andere dieser virtuellen Optionen zu fördern bzw. zu erschweren und so darüber mitzubestimmen, welche der Optionen an Chancen gewinnt, zur Vergangenheit zu werden. Kulturwandel beruht auf einer gemeinschaftlichen Filterfunktion, welche in jeder Gegenwart nur eine der mehreren möglichen Zukünfte zu der einen Linie der vergangenen Geschichte macht. Viele unbedeutsam scheinende Verstärkungen einer Optionslinie können oft nachhaltiger wirken als eine kruziale Entscheidung, welche in Polarisierungen alles zu blockieren droht und nicht selten problematische Nebenwirkungen hat. Ich vermute eine starke Diskrepanz zwischen dem realen Kulturwandel und seinen politischen Konzeptualisierungen.

3.3. Auch die Frage nach der Möglichkeit und Sicherung von Erkenntnis oder Wahrheit wird zum Sonderfall einer allgemeineren Frage danach relativiert, worauf Menschen sich in ihrem Handeln zu verlassen bereit sind. Erkenntnis von Personen ist nur insofern von Belang, als sie deren Handeln und dessen Wirkungen bestimmt. Erkenntnis ist nicht von Lebensgemeinschaften und der Bewertung ihrer wirklichen Zukunft ablösbar.

3.4. Diese Auffassung der menschlichen Kondition impliziert eine Ethik der informierten Verantwortlichkeit. Die Frage nach dem richtigen oder falschen Handeln lässt sich ablösen durch Fragen nach seinen wahrscheinlichen Wirkungen und den daraus zu erwartenden Folgen. Die Lebensgemeinschaften auf dieser Erde können die Verantwortung für ihre Zukunft nicht auf die Individuen verlagern, sondern sind einander Rechenschaft schuldig.

 

4. Die den kulturellen Wandel bestimmenden Momente gehen wesentlich von Individuen als Personen aus, sind jedoch für ihr Wirken von der Aufnahme durch andere abhängig. Kulturelle Traditionen sind auf innovative Individuen und reflektierende Personen angewiesen.

4.1. Das freie Handeln von Individuen ist entscheidend für das kulturelle Geschehen und den kulturellen Wandel. Dies ist eine dem deterministischen wissenschaftlichen Denken der Neuzeit von Descartes bis Hegel und den daran bis heute anschliessenden idealistischen und positivistischen Denkfiguren völlig konträre Vorstellung. Ihr scheint im Historismus und Relativismus nur die Alternative völliger Beliebigkeit des Zufälligen und des Willkürlichen gegenüberzustehen. Aber schon im frühen18. Jh hat Vico Geschichte auf den freien gesellschaftlichen Prozess zurückgeführt. Und etwa seit 1770 ist es Herder, der erstmals eine vollständige Theorie der offenen kulturellen Evolution formuliert und als entscheidendes Moment das dialogische Zusammenspiel der individuellen Angebote und ihrer gemeinschaftlichen Annahme und Fortführung bzw. ihre Zurückweisung erkannt hat.

4.2. Handeln als Anbieten (vgl. Lang 1993+ und 1992)

4.3. Mit Personalität ist das reflektierte Anbieten und Aufnehmen verbunden; Reflexion auf die Aufahme-Chance, aus strategischen Perspektiven

 

5. Die stabilisierenden Momente menschlicher Geschichtlichkeit sind teils ebenfalls im reflektierten, teils aber auch im beharrenden Umgang mit kulturellen Errungenschaften zu sehen, die sich in vielfacher Adoption und Repetition von Innovationen einerseits und in ihrer Abwehr anderseits herausbildet.

5.1. Aus der Systemdynamik selbst und angesichts von wechselnden ökologischen, ökonomischen, nachbarschaftlichen und kommunikativen Rahmenbedingungen entstehen unvermeidlich mal günstigere Bedingungen für innovative, mal eher für stabilisierende Momente.

Auf diesem Hintergrund wären historische Phasen in kulturellen Regionen darzustellen, in welchen den personalen oder den kollektiven Momenten jeweils mehr oder weniger relatives Gewicht zukommt. Und es wäre für bestimmte Regionen und Phasen zu zeigen, worin die Kräfte und die Wirkungen der einen und der anderen Momente konkret bestehen und was für inner- und zwischenkulturelle Bedingungen die Auseinandersetzung und den Wandel der relativen Dominanz bestimmen. Spannungsverhältnisse zu Nachbarkulturen dürften sich sowohl in innovativen Impulsen und Adoptionen wie in stabilitätsförderlichen Kontrastbildungen auswirken.

5.2. Logik von Gesetzlichkeit vs. Logik von Evolution: dyadisch vs. triadisch

 

6. Kulturelle Kollektivität oder Gemeinschaft kann nicht ohne Personalität und Gemeinschaft nicht ohne Personalität bestehen. Personalität und Gemeinschaft sind komplementäre Pole eines kulturellen Lebens. Sie konstituieren sich wechselseitig.

6.1. Es ist nicht möglich Personalität zu begreifen ohne Kulturalität mitzudenken. Ebensowenig ist Kulturalität ohne Personbildungen und Austausch denkbar. Personalität und Kulturalität sind Aspekte ein- und desselben geschichtlichen Prozesses der Bildung von mehr oder weniger überdauernden Strukturenbildung.

6.2. Geschichte, in der Perspektive von Individualität und Kollektivität verstanden, erscheint als differenzierter Strom oder als Geflecht von Strömungen in wechselweiser Interaktion und Herausbildung von Personalität und Kulturalität. Die Formungen können grössere oder geringere Gleichförmigkeit aufweisen; das Wechselspiel ist zeitlichem Wandel unterworfen.

6.3. Geschichte müsste aufhören Geschichte, dh offener kultureller Wandel, zu sein, wenn der Strom ein einheitlicher würde oder wenn er in lauter Einzelströmungen zerfiele. Mit beidem ist nicht zu rechnen,obwohl beides immer wieder für ein Ideal angepriesen wird.

 

7. Personalität ist nicht auf Individuen beschränkt. Gemeinschaften können informell oder institutionell ausreichend Kohärenz und Konsistenz gewinnen, um sich selbst im Verhältnis mit anderen -- Gemeinschaften und Individuen -- relativ kohärent und konsistent strategisch zu verhalten und auch von Seiten anderer so wahrgenommen und behandelt zu werden.

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