Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Book Review 1968

GIBSON, JAMES J. (1966): The senses considered as perceptual systems.Houghton Mifflin, Boston, 335 S.

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Schweizerische Zeitschrift für Psychologie. Vol. 27 (4) Pp. 332-334

© 1998 by Alfred Lang

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Bekanntlich wird Gibson, obschon er sich recht heftig dagegen verwahrt, von manchen seiner Fachkollegen für einen verkappten Gestaltpsychologen gehalten. In der Tat muten seine oft fast außenseiterisch eigenständigen Gedankengänge erstaunlich «europäisch» an. Im vorliegenden Buch stellt er seine Vorstellungen darüber, was •Wahrnehmung• ist, nun in einem umfassenden Zusammenhang dar, nachdem manches davon in den letzten Jahren in seinen Aufsätzen durchgeschienen ist. Es ist nicht ausgeschlossen, daß spätere Generationen amerikanischer Psychologen dieses Buch als eine historische Wegmarke in der Entwicklung der Psychologie verstehen werden. Gerade als man sich anschickte, mit Hilfe der neugewonnenen elektronischen Technik jene Vorstellungen, die man sich seit Jahrhunderten über die Art und Weise, wie unsere Sinnesorgane uns mit der Außenwelt verbinden, endlich einmal rational durchzuprobieren, kommt Gibson und erklärt, daß es so einfach nicht sei. Und zur Stützung seiner Thesen kann er nicht wenige der Ergebnisse gerade jener Versuche des rationalen Durchprobierens der traditionellen Vorstellungen (elektrophysiologische Untersuchungen und Computer-Simulation der Wahrnehmung) ins Feld führen.

Noch sicherer ist allerdings die Voraussage, daß Gibsons Thesen sich so leicht nicht werden durchsetzen können. Denn sie erfordern ein radikales Umdenken. Gibson selber trägt dazu nicht in optimaler Weise bei. Er bringt die Grundzüge unseres gesamten sinnesanatomischen und -physiologischen Wissens, um sie in seiner Systemtheorie am rechten Platz neu einzuordnen; aber die Vertrautheit des Lesers mit diesen Fakten in ihrem traditionellen Zusammenhang sind ein schwer überwindbares Trägheitsmoment. Dies um so mehr, da sich Gibson häufig zu langatmigen und den Rezensenten laienphilosophisch anmutenden Spekulationen über prähistorische und phylogenetische Entwicklungen der Sinnessysteme verleiten läßt.

Das darf aber für die Beurteilung des Buches nicht so sehr ins Gewicht fallen. Entscheidend ist, daß Gibson dem Gefühl mancher Forscher Stimme gilt, daß die Psychologie der Wahrnehmung in manchen ihrer Ansätze eigentlich immer noch auf dem selben Holzweg wandle, den schon seinerzeit die Gestaltpsychologen verworfen haben. Gibson will also die Sinnesorgane nicht länger als Kanäle der Reizverarbeitung, sondern als Teilststeme der Wahrnehrmung auffassen, welche aus der umgebenden Welt die für das Individuum bedeutsame Information ausziehen, wie immer und wo immer solche verfügbar ist. Genau wie den Gestaltpsychologen geht es ihm darum ’Helmholtz‘ «unbewußte Schlüsse» durch eine empirisch fundierte Theorie in den Bereich des Durchschaubaren zu heben. Wie diese (Gibson war ja seinerzeit ein jüngerer Kollege Koffkas am Smith College) leugnet er die primäre Wichtigkeit der Reizwelt, so wie sie die Physik in einfachen Dimensionen versteht, für die Wahrnehmung. Dann allerdings, im Gegensatz zur Gestaltpsychologie, überbürdet er nicht alle Erklärungslast dem wahrgenommenen Phänomen oder den postulierten isomorphen Hirnprozessen. Vielmehr setzt sich der Einfluß der empiristisch und behavioristisch eingestellten Umwelt insofern durch, als Gibson annimmt, daß alle Information, die das Individuum benötigt, in der externen Welt in Form von einer großen Zahl von äußerst komplexen Dimensionen vorgegeben ist. Komplex sind diese Dimensionen natürlich nur, wenn sie mit den Mitteln unserer gegenwärtigen Physik beschrieben werden sollen. Die Sinne als Wahrnehmungssysteme verstanden sind jedoch auf diese komplexen Reizinformationsdimensionen hin gebaut und phylogenetisch entwickelt. Für die Wahrnehmung sind also die Reizinformationsdimensionen einfach. Sie erlauben dem Individuum, die für es wichtigen Invarianten in einer sich ändernden Reizwelt zu entdecken. Wahrnehmungslernen betrifft dann nicht die Neuzuordnung von Antworten zu Reizen, sondern das Entdecken und Ausdifferenzieren von weiteren Reizinformationsdimensionen (ein ergänzendes Buch darüber ist von Eleanor J. Gibson zu erwarten).

Unter diesen Voraussetzungen ist die afferente Erregung der sensorischen Nerven nicht, wie es seit Jahrhunderten gelehrt wurde, die Grundlage der Wahrnehmung, sondern, wie Gibson sagt, nur die eine Hälfte davon. Die aktiven Sinne seien nicht nur Urheber von Signalen und Botschaften und die Funktion des Gehirns sei es nicht, diese Signale zu organisieren und die Botschaften zu verarbeiten. Vielmehr seien die Sinne einschließlich der zugehörigen Teile des Zentralnervensystems ein Mittel des Individuums, aus der umgebenden Welt jene Informationen herauszusuchen und herauszuziehen, die es zu seinem erfolgreichen Fortbestehen braucht. Dementsprechend wird nun einerseits untersucht, inwiefern die umgebende Welt als Träger von Reizinformation in Frage kommt. Anderseits wird eine Systematik der wahrnehmenden Systeme vorgeschlagen (allg. Orientierung, Zuhören, Berohren, Schmecken/Riechen und Schauen) und ein großer Teil unserer traditionellen Kenntnisse in den neuen Zusammenhang eingeordnet.

Der Aspekt der informationshaltigen Umwelt ist in einem Kapitel sehr kursorisch behandelt. Bemerkenswert ist, daß auch allerdings nur auf zwei Seiten - auf die sozio-kulturelle Umwelt als Informationsträger eingegangen wird. Gibson irrt aber, wenn er einfach behauptet, daß es keine einzige Abhandlung über die Umwelt als Reizinformationsträger gebe (S. 30; vgl. unten).

Der Aspekt der wahrnehmenden Systeme nimmt weitaus den größten Teil des Buches ein. Es ist eine höchst anregende Lektüre: das sei vorweggenommen! Gelegentlich kommt Gibson seine Neigung zur Klassenlogik ins Gehege, z. B. wenn er die Unterscheidung zwischen Orientierungs- und Berührungssystem aufheben muß, um ganz im Sinne seiner These das gemeinsame Ausziehen von Lageinformation aus Gravitations-, Beschleunigungs- und Druckreizen darzustellen, oder wenn die aus unersichtlichen Gründen beibehaltene Scheidung zwischen extero- und propriozeptiver Wahrnehmung aufgehoben werden muß, damit die propriozeptive Kontrolle der eigenen Stimme phylogenetisch zur Grundlage der sprachlich-sozialen Kommunikation als exterezeptive Kontrolle erklärt werden kann. Letzteres ist auch ein Beispiel dafür, daß Gibson sich manchmal zum Analogiedenken und zu phantastischen Spekulationen hinreißen läßt. Am ausredehntesten und eindrücklichsten sind natürlich seine Ausführungen über das Schauen als das Ausziehen von Information aus der Verteilung von umgebendem Licht, da er hier vor allem auf die Forschungen seines Laboratoriums abstellen kann. Der Unterschied zwischen Reiz und Reizinformation läßt sich am einfachsten am Beispiel der Rubinschen Figur demonstrieren: zwar ist der Reiz bei beiden wahrgenommenen Versionen absolut derselbe, nicht aber die Reizinformation, da die Kontur Superposition bzw. Tiefe in der dritten Dimension impliziert; diese wird nicht vom Reiz her, sondern aus andern Quellen spezifiziert, wenn entweder Becher oder Profile wahrgenommen werden. Die Ausführungen zur Tiefen- und Neigungswahrnehmung und die Rolle der Augen- und Kopfbewegungen hierbei sind wohl Gibsons originellster Beitrag: Theorie und Befunde werden in Übersicht referiert.

Die Verdienste Heiders, Michottes und Ivo Kohlers werden vermerkt; erstaunlich ist hingegen, daß Gibson die Umweltlehre von Uexkülls nicht zur Kenntnis genommen hat. Einiger Bemerkungen bedarf sein Verhältnis zur Gestaltpsychologie. Zwar anerkennt er ihren bedeutenden Einfluß, aber er distanziert sich ebenso deutlich von ihr, indem er leugnet, daß das Gehirn die Organisation den Reizen auferlege («neural inputs of a perceptual system are already organized and therefore do not have to have an organization imposed upon them», S. 267). Damit stimmt Gibson mit der Kritik der Berliner an der Grazer Schule (Produktionstheorie der Gestalt) überein. Aber er macht es sich dann zu leicht, wenn er «Resonanzvorgänge» zwischen der Reizinformation und den Wahrnehmungssystemen postuliert und auch das Prägnanzprinzip in einer sehr vagen Formulierung («A perceptual system 'hunts'' for a stete of ’clarity‘, S. 271, 320) erneuert. Das schwächste Kapitel ist denn auch m. E. dasjenige über die Fehlleistungen der Wahrnehmungssysteme (Täuschungen, Nachwirkungen, Sozialwahrnehmung usw.), wo er dank seinem naiv-realistischen und darwinistisch-optimistischen Weltbild nicht über unverbindliche Plausibilitäten hinauskommt. Entweder ist nicht genügend Reizinformation angeboten, wird gesagt, oder die wahlnehmenden Systeme greifen sie aus verschiedenen Gründen nicht hinreichend gut auf. Kein Wort über die produktiven Leistungen von Fehlwahrnehmungen, nichts über das intrigierende Problem, wie es möglich ist, z.B. einen Kreis zu sehen, wo keine Reizinformation «Kreis» angeboten ist.

Der entscheidende und vielleicht einzige Unterschied Gibsons und der Gestalttheorie liegt m.E. im Bereich der Erkenntnistheorie; alles andere ist daraus erwachsende Konsequenz. Für den Gestalttheoretiker ist eben auf dem Hintergrund des Kantischen Denkens jede Organisation letztlich Organisation durch das wahrnehmende System, weil die transzendentale Welt letztlich nicht anders als durch die (interne) Wahrnehmungsorganisation zugänglich ist. Und alle Beteuerungen und empirischen Nachweise, daß das Reizangebot bereits (extern) organisiert sei (Gibsons komplexe Informationsdimensionen), können nicht die Möglichkeit widerlegen, daß diese externe Organisation durch eine andere interne «Brille» gesehen anders aussehen könnte. Ungeachtet dessen hat sich aber Gibsons Realismus zumindest heuristisch als außerordentlich fruchtbar erwiesen, da er ihn dazu geführt hat, die Reizorganisation nicht nur im Hinblick auf das Phänomenale zu untersuchen, sondern eben - wie von Uexküll und seine Nachfolger - der Merk- und Wirkweise perzeptiver Systeme in einer Welt von relevanten Bedeutungen nachzugehen. Es ist schade, daß er in der Folge die externe gegen die interne Organisation auszuspielen trachtet, anstatt sie in ihrem Zusammenwirken zu verfolgen.

Dieser fatale Ausschließlichkeitsanspruch hat wohl vor allem dazu geführt - und die unglückliche Organisation (extern bedingt) des Buches von den Sinnesgebieten her hat es bekräftigt -, daß Gibson schweigt oder bestenfalls ad hoc Überlegungen macht wenn es um die zentralen Organisationsformen der Wahrnehmung geht, nämlich Raum und besonders Zeit. «Raum. sei die «anliegende» Reihung, «Zeit» sei die «nachfolgende» Reihung. Beides wird wiederum als real gegeben vorausgesetzt, und es werden nicht die ganz spezifischen Voraussetzungen seitens der wahrnehmenden Systeme erörtert, welche die örtliche Getrenntheit von Verschmelzung und die Gleichzeitigkeit von der Sukzession zu trennen überhaupt ermöglichen. Die Frage der Bezugssystembildung bezüglich der Phänomene kommt dann zu kurz, weil ja die subjektiven Dimensionen (Raumdimensionen, Zeit, Neigung, Helligkeit, Farben usw.) ebenso einfach sind wie ihre angeblichen physikalischen Urbilder. Daß dazwischen die Reizinformation woraus das wahrnehmende System die objektiven Invarianten abgezogen hat, komplex war, ist nur ein Zwischenspiel.

Zum Schluß sei aber noch einmal deutlich gemacht, daß Gibson ein höchst wichtiges, notwendiges und anregendes Buch geschrieben hat. Nicht zuletzt sind die vielen kritischen Bemerkungen der Frustration des Rezensenten entsprungen, daß es einem grundsätzlich bedeutsamen Ansatz infolge einer Reihe von Idiosynkrasien des Zeitgeistes, des Nationalgeistes und wohl auch des Autors an der entscheidenden Durchschlagskraft mangelt. Gibson hat aber zweifellos entscheidende Vorarbeit für die kommende systemtheoretische Durchdringung der Wahrnehmungsfunktion geleistet.

A. Lang

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