Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Magazine Article 1990

Über die Tiefen der Schnittstelle

Gedanken zum computerunterstützten Menschen(bild)

1990.04

@HumComp @EnvPsy @SciPol

11 / 13 KB  Last revised 98.11.14

Bulletin der Schweizer Psychologen (BSP) 12 (6 Juni 1990) 19-22.

© 1998 by Alfred Lang

info@langpapers.org

Scientific and educational use permitted

Home ||

 

Obwohl nun seit einiger Zeit Psychologen bei der Konstruktionen von Computersystemen und beim Umgang mit ihnen eine nicht mehr zu vernachlässigende Rolle spielen, bin ich der Meinung, dass das Verhältnis der Psychologie zum Computer noch nicht ein geglücktes sei. Neben der instrumentellen Verwendung des Computers, die sich von derjenigen in andern Wissenschaften und Praxisbereichen nicht grundsätzlich unterscheidet, haben sich vor allem zwei Felder des spezifischen Engagements von Psychologen herausgebildet, welche allerdings in ihrem Fundament intim miteinander verbunden sind.

Die Arbeits- und Organisationspsychologenfassen den Computer als ein Werkzeug auf, mit welchem Menschen Leistungen vollbringen. Es besteht demnach eine Aufgabe der Optimierung zwischen den beiden Teilen eines Mensch-Maschine-Systems im Hinblick auf damit zu erbringende Leistungen und auf das Wohlbefinden der Benutzer. Naheliegenderweise konzentriert sich die Bemühung auf die sog. Schnittstelle zwischen den beiden Teilen des Systems. Auf den Ebenen des Geschehens wie Bildschirm und Wahrnehmung, Hand und Tastatur, Arbeitsplatz und Wohlbefinden, Aufgaben und Arbeitsteilung etc. sind eine Fülle von psychologischen Problemen erkannt und mit teilweise nützlichen Einsichten und Vorschlägen einer Lösung nähergebracht worden.

Man kann zwar heute nicht mehr sagen, dass sich diese Bemühungen bloss auf die Oberflächen der "Schnittstelle" der beiden Teilsysteme beschränken würden. Dennoch bin ich der Meinung, dass ein verstärktes Durchdringen ihrer "Tiefen" für die Optimierungsaufgabe vorteilhaft sein könnte. Ich meine damit bei der Entwicklung von Mensch-Computer-Systemen eine sensiblere Berücksichtigung der "Formen des Wissens", welches in jedem der beiden Teilsysteme über das je andere besteht. Der Charakter von Information, teilweise sogar ihr Inhalt, ändert sich nämlich mit dem Charakter ihres Trägers, mit ihrer Form. Vereinfacht gesagt mutet heutige Computerprogrammierung ihrem Benutzer fast immer ihre eigene "gequantelte Denkweise" zu. Das ist natürlich nicht negativ zu bewerten bei Aufgaben, die genau das verlangen.

Dort wo andere menschliche Errungenschaften gefragt sind, wirkt es sich freilich problematisch aus. Diese werden nicht nur aktuell unterdrückt, sie könnten allmählich in gewissen Lebensbereichen aus dem Blickfeld verschwinden. Die dem Benutzer aufgenötigte Ohnmacht erzeugt im günstigsten Fall Rebellion; wahrscheinlicher aber ist Resignation, Eskapismus und Ausblenden seiner anderen Daseinsformen. Jedenfalls geht die Aufgabenteilung zwischen Mensch und Computer noch viel zu sehr von der Idee aus, der Computer habe den Menschen zu führen und nicht umgekehrt. Als ein Beispiel nenne ich das computerunterstützte Lernen, wo ja seit langem eine erstaunliche Stagnation festzustellen ist. Denn es kann und darf ja nicht ein Ziel sein, im Lernenden computeranaloge Wissensstrukturen zu erzeugen.

Die Situation ist trotz Einbezugs von mehr und unterschiedlichen psychischen Funktionen nicht grundsätzlich anders als zu den Pionierzeiten der Arbeitspsychologie am Jahrhundertbeginn. Der engagierte Psychoergonomiker oder Betriebspsychologe steht in einem Dauerdilemma zwischen seinem Anliegen der Anpassung der Maschinen an sein Bild vom Menschen und seinem Auftragder Anpassung des Menschen an die bestehenden Maschinen. Nur insoweit er dem Auftrag der Ingenieure und Konzerne partiell entgegenkommt, wird er genügend Vertrauen erwerben können, um sein Anliegen geltend zu machen und wenigstens partiell durchzusetzen.

Die Bewertung der Leistung der Psychologie schwankt in diesem Feld denn auch zwischen vorzüglich, wenn man punktuelle Fortschritte der letzten Jahre, etwa in den Bereichen der sog. Benutzerfreundlichkeit oder der Mitbestimmung beim Aufbau von Programmpaketen betrachtet, und zweifelhaft, wenn man etwa die Frage stellt, ob Menschen, die mit Computersystemen arbeiten, dadurch an Würde gewonnen haben oder noch stärker als vorher versklavt worden sind. Zudem fühlt sich der Psychologe in diesem Bereich unter starkem Legitimationsdruck, da der Hausverstand der Konstrukteure und Nutzer auch Kompetenz beansprucht. Es ist mithin nicht verwunderlich und dennoch zu bedauern, dass nur wenig Psychologen sich das sachgerechte, attraktive, herausfordernde, verantwortungsvolle und gesellschaftlich hochbedeutsame Programm von Hansruedi Kaiser (BSP Mai 1989 15-23) zu eigen machen können.

Das zweite Feld ist die Frage nach dem Menschenbild. Obwohl die Psychoergonomen und Organisationspsychologen, wenn sie ihr Anliegen der Verbesserung der Maschinen für den Menschen verfolgen wollen, ja notwendig von ihrem Bild des Menschen - nicht vom Menschen selbst - ausgehen müssen, scheint diese Frage praktisch tätige Psychologen wenig zu beschäftigen. Vermutlich deswegen, weil man damit nicht unmittelbar etwas anstreben und erreichen kann. Umso nachhaltiger wirkt sich das freilich in der Praxis aus, weil natürlich auch Konstrukteure und Nutzer ein Bild vom Menschen haben und seine Gültigkeit beanspruchen. Wie man weiss, fühlt sich jedermann und jedefrau als psychologischer Experte; gewiss nicht einfach ohne Recht.

Anderseits ist eine Gruppe von kognitiven Wissenschaftlern, wie sie sich selber nennen, mit Aspekten dieser Frage intensiv beschäftigt. Auch hier sind neben Informatikern und andern Wissenschaftlern und Ingenieuren ebenfalls Psychologen beteiligt. Auch hier spielen die Psychologen nicht eine führende, sondern eher eine reagierende Rolle, obwohl sie zahlenmässig und intellektuell durchaus ins Gewicht fallen.

In diesen Kreisen ist etwa seit der Jahrhundertmitte ein Menschenbild entstanden und gefördert worden, das bereits tief ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen ist und dort mehrheitlich dankbar aufgenommen wird, weil es so nüchtern, so praktisch und zugleich so wissenschaftlich wirkt. Zudem knüpft es an ältere Menschenbilder der Aufklärung ("l'homme machine") an und scheint sie entscheidend zu verbessern. Ich meine die Metapher vom Menschen als einer Art Computer.

Die Computer-Metapher ist von der psychologischen Grundlagenwissenschaft - man muss schon sagen - sehr dankbar aufgenommen worden. Sie schien, gegen Ende der Behaviorismuswelle, aus einer echten Verlegenheit zu erlösen. Die kleinen Buchstaben (Hulls sG und rG) und anderes Füllmaterial der Blackbox, was nirgendshin geführt hatte, konnten durch wirklichere Dinge wie Arbeits- und Langzeitspeicher, durch semantische Knoten und Pfeile, durch Zielhierarchien, Ablaufpläne, TOTE-Einheiten u.v.a.m. ersetzt werden. Und das hatte den Vorteil, dass diese Dinge zwar in den Menschen auch nicht dingfest gemacht werden konnten, aber in einem Simile des Menschen nicht nur real-time, sondern handfest in Silikon und Kupfer, Bytes und Bitstreams vorkamen. Die Psychologie versprach wieder, eine wirkliche Wissenschaft zu werden, die sich mit Dingen beschäftigte, welche man auseinandernehmen und zusammensetzen konnte. Um den Billigcharakter der Sache zu übertünchen, wurde rasch der ein wenig nach Jahrmarkt riechende Ausdruck Simulation durch das vornehmer klingende "Emulation" ersetzt.

Nicht dass die Computer-Metapher etwa von Psychologen erfunden worden wäre; sie waren die Nutzniesser der wahren Experten für Menschen, nämlich derjenigen, die über das Geld verfügen. Die Psychologen durften dann noch ein paar Redeweisen wie die von der "künstlichen Intelligenz" oder vom "Neuronalcomputer"zur Garnierung beisteuern. Es ist bekannt, dass die Formel von der künstlichen Intelligenz von Joe McCarthy als Propagandatrick an Geldgeber für ein Forschungsprojekt kreiert worden ist. Man weiss, dass ELIZA, der computerunterstützte "Psychotherapeut", von Josef Weizenbaum programmiert worden ist um zu demonstrieren, dass Sprachverstehen etwas anderes ist als was der Computer leistet. Beides war im positiven Sinn Hokuspokus. Beides ist von fleissigen Psychologen und anderen Heilsbringern rasch zu millionenschweren "Technologien" aufgebauscht worden, ungeachtet der Proteste von Weizenbaum.

Vielleicht ist mein sarkastischer Tonfall dem Ernst der Sache nicht ganz angemessen. Ich fürchte aber, dass wir uns bereits so sehr an diese Denkweise gewöhnt haben, dass sie nur mehr mit drastischen Aktionen vielleicht aufzuhalten ist. Meine Zeilen sind als ein Aufruf an die Psychologen zu verstehen. Wenn Psychologen und Psychologinnen so etwas wie Verantwortlichkeit für menschliche Belange beanspruchen wollen, dann sollten sie nicht zulassen, dass mit der Übernahme der Computer-Metapher, ja mit ihrer aktiven Unterstützung als vorherrschende Grundlagen-Forschungsdoktrin, ein ganz bestimmtes und höchst partikulares Menschenbild allmählich das öffentliche Bewusstsein überschwemmt. Denn es gibt in der wissenschaftlichen Psychologie zweifellos tausende und abertausende von Forschungsergebnissen und dutzende bis hunderte von verhältnismässig bewährten Theorien, welche mit der Auffassung des Menschen als eines binärinformationsverarbeitenden Systems nicht vereinbar sind.

Ein Satz von guten Partialtheorien und Befunde für sehr spezifische Fragestellungen wird hier einfach überdehnt. Vermutlich handelt es sich bei der Computer-Metapher vom Menschen um eine eilige und falsche Generalisierung und Reifizierung, die uns - durch diese faszinierenden Spielzeuge für anderes geblendet - einige Zeit gefangen hält. Sie droht allerdings in einen neuen Jahrhundertmythos auszuarten, ähnlich demjenigen der im Anschluss an die Freudsche Auffassung vom Menschen als domestiziertem Triebwesen das 20. Jahrhundert der abendländischen Zivilisation dominiert hat und noch immer seine Wellen wirft.

Die Tiefen der Schnittstelle sind auf der Seite des Computers gut bekannt, auf der Seite des Menschen nur undeutlich und unsicher aufgeklärt. Wie Münchhausen sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen wollte, versuchen heute weite Teile der wissenschaftlichen Psychologie, mithilfe eines menschlichen Produkts umfassende Aufklärung über ebendiesen Menschen zu geben. Das ist ein logischer Zirkel. Man muss zumindest dieses eine Produkt menschlichen Geistes mit anderen Produkten seines Handelns ins Verhältnis setzen. Ich äussere meinen Protest in erster Linie aus ethischer Verantwortung, weil Menschenbilder äusserst mächtige Motoren der kulturellen Entwicklung, um nicht zu sagen: Herrschaftmittel, sind. Es liegt mir aber auch als Wissenschaftler daran, dass eine hochinteressante Forschungsstrategie (information processing approach) als das betrieben wird, was sie ist, nämlich eine fruchtbare, aber recht spezielle Heuristik, und nicht mehr.

 Top of Page