Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Column 1992

Eine Menschenrechts-Frage

1992.14

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Bund-Kolumne. Der Bund (Bern) Nr. 68 vom 21.3.92

© 1998 by Alfred Lang

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Derzeit gehen zwei Kampagnen um im Schweizerhaus. Nur eine davon ist salonfähig; die andere schwelt in Küche und Keller.

Im Salon belehren die Pädagogen der Nation, Politiker, Journalisten und Leserbriefschreiber aller Couleur, Fremde seien auch Menschen, das Gastrecht sei heilig, die Aufnahme der Asylanten aus aller Welt eine Menschenpflicht, Rassismus unerträglich. Der Ton geht von gemässigt bis gehässig, herablassend bis dogmatisch. Natürlich haben sie Recht, unsere Hüter einer guten Moral.

Eher indirekt, nur als Pulverdampf und Zwiebelgeruch sozusagen, gelangt die zweite Kampagne in die Medien. Wenn Asylantenheime angezündet werden, ist Entrüstung angezeigt. Gelegentlich rapportiert ein Journalist die Misstimmung aus Fremdenangst und -hass, die in weiten Kreisen der Bevölkerung schwelt. Einzelne Leserbriefe, die man als Symptome publiziert und zur Kenntnis nimmt, wagen tollkühn ihre "Moral aus dem Bauch" zu verteidigen.

Die beiden Kampagnen steigern sich wechselseitig zu Verhetzungen hoch. Jede fühlt sich im Recht. Je mehr diese unbedingte Solidarität aller mit allen gefordert wird, desto wichtiger wird es für einige, ihren Grenzen zu trotzen. Jeder "Schwall aus dem Keller" fordert aber wieder die andern zu Massnahmen gegen die Diskriminierung heraus. Denn die Menschenrechte sind bedroht.

Aber was sind denn die Voraussetzungen dafür, dass Menschen anfangen, sich vor anderen Menschen ohne rechten Grund zu ängstigen und unter Umständen gegen Unschuldige mit Worten und Taten vorzugehen? Was veranlasst anderseits Menschen, eine Ethik der weltweiten Verschwisterung zu fordern, die sie persönlich nie einhalten könnten?

Antworten sind komplex und hier nicht zu leisten. Als erstes scheint mir angezeigt, den Geängstigten eine Sprache zu leihen, Figuren aus der Küche im Salon auftreten zu lassen und ihnen gut und geduldig zuzuhören. Aus den vielen Schichten des Fremdenproblems greife ich eine heraus, die mich zunehmend selber beunruhigt.

Menschen gewinnen ihren Lebenssinn aus einer eigenartigen Kombination des zugleich Sichselberseins und des Zugehörigseins. Im Fachjargon: die Identität eines jeden Menschen ist zugleich eine persönliche und eine soziale. Im Alltag dreht sich das um die Frage, wer oder was meine Lebensform in welchem Ausmass bestimmt. "Ich": Wie weit bin ich mein eigener "Meister"? "Wir": In welchem Grad lasse ich mich von den "Meinen" bestimmen, von denen die wir uns gegenseitig kennen und denen ich vertraue oder auf die ich meinerseits Einfluss nehmen kann? "Dritte": Inwiefern bestimmen mich Personen und Gruppen, die "von aussen her" mit den verschiedensten Mitteln in mein Leben einbrechen, Kräfte, denen ich mich ausgeliefert fühle, deren Macht ich nichts entgegensetzen kann?

Eine gelungene Balance zwischen dem "Ich", dem "Wir" und den "Dritten" ist wohl der Kern eines achtenswerten Lebens. Ich halte die Frage nach ihrem guten Verhältnis auch für die Wurzel der Demokratie, der Idee der Verteilung des Einflusses in einer Gemeinschaft. Heute stellt sich aber für viele die Frage, wieviel von diesen dritten Kräften von aussen her man ertragen muss und kann. Dritte sind unentbehrlich, soll das Wir nicht erstarren und das Ich nicht verkümmern. Aber wieviel davon und von welcher Art? In den Lebensgemeinschaften der Welt wird fortwährend um die Balance dieser drei Kräfte gerungen. Stabile Gesellschaften kennzeichnet, dass sie das Ich verhältnismässig stark in ein Wir einbinden und die Rolle der Dritten mässigen.

In den abendländischen Gesellschaften ist jedoch seit einem halben Jahrtausend ein Prozess der "Befreiung" des Ich im Gang. Er ist im letzten halben Jahrhundert in einem Ausmass fortgeschritten, dass die Nebenfolgen überhandnehmen. Für viele Menschen gibt es kaum mehr ein verlässliches Wir und die Dritten, Hiesige und Fremde, sind zu bedrohlichen, allgegenwärtigen Nachbarn geworden. Die Abfallprodukte von ihren Selbstverwirklichungstätigkeiten beherrschen unser aller Leben. Es sind nicht nur der Lärm, die verpestete Luft, die Informationsschwemme, die ästhetische Verwüstung der Umwelt und all die anderen Immissionen, die uns zu schaffen machen. Noch heftiger wirken auf uns all die Handlungszwänge, denen uns die Meinungen und die Aktionen all dieser kaum beeinflussbaren Dritten auferlegen. Wollen wir nicht aus dem Sozialsystem gänzlich hinausfallen, sind wir genötigt, so viel von der betriebsamen Hektik, von dem wütenden Konsum, von der aufdringlichen Kommunikation, von den immer dichteren Regelungszwängen mitzumachen. Angst und Panik folgen, wenn dem geschwächten Wir nicht ein kompensationsfähiges Ich entgegenstehen kann. Dann sind wohl die Fremden willkommene Sündenböcke, obschon die Dritten zur Hauptsache Hiesige sind.

Unsere Lebensordnung basiert wesentlich auf den individuellen Freiheiten. Die einklagbaren Menschenrechte schützen das Individuum verhältnismässig erfolgreich gegen Willkür im sozialen Verband, insbesondere von staatlichen oder anderen kollektiven Mächten. Aber haben wir nicht die Balance der drei Kräfte erschwert, indem wir die Grundrechte zugunsten der sich emanzipierenden Person formulierten? Warum lassen wir die Dritten folgenlos in unsere Gruppen einbrechen, unsere Netze von Vertrautheit zersetzen? Mit der Befreiung des Individuums und der Schwächung der Wir-Gruppen haben wir eine enorme Zunahme der verstreuten, der anonymen Einwirkungen, der Einflüsse von den Dritten her ausgelöst. Deren Übergriffe sind schwer zu vermeiden, nicht zu verhindern und nicht einklagbar, wenn sie nicht direkt gegen Personen gehen. War es klug, dem Wir , weil wir es rechtlich nicht fassen können, nicht auch so etwas wie Grundrechte zu verleihen? In schwachen Gruppen ist meistens auch das Ich gefährdet. Dann kommt ein Teufelskreis in Gang, indem wir uns genötigt sehen, sowohl die überbordenden wie die geschwächten Individuen immer mehr in anonyme Netze von Gesetzen und Vorschriften einzustricken. Und gerade das war ja nicht das Ziel ihrer Befreiung.

Ich will nicht bestreiten, dass die Grundrechte der Person in vielen Ländern der Welt immer noch und immer wieder -- hie und da auch bei uns -- verletzt werden, und ich unterstütze alle Anstrengungen zur Verbesserung der Verhältnisse. Meine Frage zielt jedoch auf eine andere Ebene: Sind diese individualistischen Menschenrechte nicht sehr eurozentrisch, um nicht zu sagen rassistisch? Denn sie setzen doch die Selbstgewissheit voraus, wir seien die wahren Träger von Vernunft und Zivilisation? Ist wirklich der europäische Intellektuelle der letzten paar Jahrhunderte in seinen Salons -- ich bin auch einer --, der den Kulturen der Welt ihre bewährten sozialen Stabilisatoren zerstört hat, der Masstab der Humanität?

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