Alfred Lang

University of Bern, Switzerland

Newspaper Article 1999

Die Macht soll hier keiner gewinnen

1999.00

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 Last revised 00.09.04

Unpubl. Zeitungsbeitrag 1999

© 1999 by Alfred Lang

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Machtansprüche sind ein Symptom von Partikularinteressen. Die Kartellierung von Partikularinteressen macht sie nicht besser, nur mächtiger und folgenträchtiger.

 

Zunehmend mehr Personen und Gruppen streben auch in der Schweiz "nach der Macht". Aber diese Leute träumen. Tagträume.

Macht ist nämlich in diesem Land relativ breit verteilt; die Macht gibt es hier nicht. Wer sie dennoch anstrebt, ist einer Illusion verfallen, hat sich von Medienberichten über "Wahlkämpfe" und Machtübernahmen in andern Ländern verführen lassen.

 

Machstreber und Machthaber?

Machtstreber sind überall und immer Illusionen verfallen. Machthaber täuschen die anderen und sich selbst dazu. Die mit dem Machthaben verbundene Ohnmacht macht aber die meisten Mächtigen zu einem Risiko für alle. Und zerstört sie schliesslich nach allseitigem Unglück in aller Regel selbst.

Mit einigem Erfolg hat man solches in diesem Land bisher weitgehend vermeiden können. Wer eigentlich will so etwas Kluges ändern?

Am Wahltagabend im Herbst wird, wenn nicht alles trügt, in der Schweiz einmal mehr "alles beim Alten bleiben". Die üblichen kleinen Verschiebungen nach der Mitte oder nach den Extremen hin. Machstreber beklagen das und wollen uns weismachen, dieses Land sei am Versteinern und das müsse jetzt ändern. In wessen Interesse eigentlich? [Nachtrag nach den Wahlen: hier habe ich mich, was die Zahlen betrifft, ebenso getäuscht wie alle anderen Beobachter; an den Verhältnissen freilich hat sich nichts geändert.]

Hier gibt es aber keine "Landslide"-Wahlen. Weil das Volk die Macht schon hat. Demzufolge gibt es auch keine "offizielle" Opposition. Das Volk hat die Macht und ist auch die Opposition. Jede Gruppe von Ähnlichgesinnten kann trendigen oder kapriziösen oder ewiggestrigen Projekten opponieren. Ansprüche und Zumutungen zurückweisen und bessere Wege vorschlagen und einleiten.

 

Oder Kollegialitätsprinzip?

Warum soll das nicht auch für die "Bundesratsparteien" gelten? Schon dieser Begriff ist eine falsche Übernahme aus anderen Verhältnissen. Über die von ihnen vorgeschlagenen Bundesräte sollen die Parteien nicht Macht ausüben wollen oder gar ihre Interessen durchsetzen, sondern ihre je eigenen Akzente ins Konzert der Werthaltungen zu einem besonnenen Ausgleich einbringen. Wir haben den Staat auf die Triage von Interessen reduziert und richten ihn damit zugrunde.

Das Kollegialitätsprinzips verlangt Mitglieder, die sich nicht als Vertreter Ihrer Interessengruppen gebärden. Von den Parteien werden sie vorgeschlagen; aber gewählt werden sollten sie, weil sie fähig sind, der Allgemeinheit zu dienen. Denn als Interessenvertreter werden sie sich nie einigen können. Also darf man keine Interessenvertreter wählen. Warum nicht Leute wählen, die gezeigt haben, dass sie ihre Parteimeinung hinter sich lassen können? Zum allgemeinen Schaden haben wir uns Machtstrebern ausgeliefert. Nach einer starken Regierung ruft, wer hofft, dort seine Interessen durchgesetzt zu sehen.

 

"Alle Macht beim Volk"

Nun ist die Formel von der "Macht beim Volk" freilich abgenutzt. Ihr Gehalt ist wohl unter der Fülle von Information aus andersartigen Verhältnissen und in brennenden Sehnsüchten nach Ausbruch aus der Enge des Kleinstaats immer mehr missverstanden worden. Aber sein persönliches Wunschdenken und Unbehagen soll man nicht auf die Gesellschaft und den Staat projizieren. Man muss es als Person bewältigen. Zum einen durch Erfahrungsbereicherung in anderen Verhältnissen, zum andern durch die Mitgestaltung der hiesigen Verhältnisse in einem weiteren Horizont. Nur lächerlich ist, worin sich so manche unserer Literaten derzeit wechselseitig begeistern: im Klagen über ihr Heimatland.

Was soll denn damit gewonnen werden, dass Literaten und Medien das Volk und seine Politiker in Jasager und Neinsager aufteilen? Und "Gut" und "Böse" zuteilen, wie wenn sie selber über den Gerechtigkeitsinn und das Vorauswissen, nur leider nicht die Machtfülle eines Gottes verfügten. Und damit alle an der öffentlichen Sache Engagierten, zu absurden Streiten in einer fiktiven Arena zwingen. Unvermeidbar nur deswegen, weil zu verlieren fürchtet, wer das Feld den anderen überlässt.

Ein Sonderfall ist die Schweiz nämlich unter allen längerlebigen Republiken in dem einzigen Punkt, dass hier das Regime nicht gewechselt werden kann, wie es in den umliegenden Ländern mehrfach geschehen ist und derzeit einmal mehr in Italien versucht wird, bald wohl auch in Österreich versucht werden muss [letzteres ist inzwischen geschehen]. Die Personen auszuwechseln wie in Deutschland und vorher in Frankreich, mag Unterhaltungswert haben; effizient ist es nicht. Sonderfälle in diesem Punkt sind auch Grossbritannien und die USA, freilich in anderer Weise als die Schweiz.

Die Schweizer Republik trägt keine Nummer. Sie kann verbessert, sie kann vertan, aber nicht abgelöst werden. Weil eben "alle Macht beim Volk" ist. Das Volk nützt sich nicht ab und kann daher nicht durch ein anderes ersetzt werden. Weder als regierendes noch als regiertes. Es erneuert sich fortwährend. Durch Zeugung, Bildung, Zuwanderung und Eingemeindung.

Wir haben unsere Republik, die Grundzüge der Verfassung der Confoederatio Helvetica, im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewonnen, mitten unter den nationalistischen Fehlentwickllungen ringsum, nach mehreren Umwegen und in Schritten. Langfristig gesehen allerdings auf der Grundlage ähnlicher Selbstorganisation der Gemeinden und Kantone die meiste Zeit vorher. Für ihre Selbstorganisation sind ja die Eidgenossen weitherum und langezeit bewundert worden. Auch sie bedarf kontinuierlicher Erneuerung.

 

Prinzip Selbstorganisation ...

Was aber ist der hohe Wert dessen, was ich hier Selbstorganisation nenne? In der Hoffnung dem Unsinn auszuweichen, den Wörter wie "Macht" und "Volk" in verheerenden, millionenfach tödlichen und gewalttätigen Interessenkämpfen rings um uns herum gewonnen haben. Was für eine Leistung, dem halbwegs unversehrt entgangen zu sein!

Selbstorganisation steht im Gegensatz zur Hierarchie mit ihren Zwängen auf allen Stufen zur Sicherung und ihren Kämpfen zur Durchsetzung der jeweiligen Macht; was für eine menschenzerstörende Verschwendung von Reibungskräften! In selbstsorganisierenden Systemen sind alle Teile eines Ganzen wechselseitig aufeinander angewiesen und pflegen einander und ihre Umgebungsbedingungen. Kein Teil hat eine Schlüsselrolle. Wenn einer andere ausbeutet, wird er früher oder später auch ausgebeutet. Wenn einer verliert, verlieren letztlich alle. Also beschränkt man das Austricksen besser von sich aus auf ein Minumum.

Das bedeutet, dass Hoffnungen einer Art, die denjenigen auf ewiges Heil nahekommen, ebenso wie Selbstgenügsamkeit anderswo als im Staat ihre zweifelhafte Erfüllung suchen müssen. Das heisst, dass Regierende oder Parteien, die glauben, dem Volk ihre Politik werbemässig "verkaufen", sprich aufdrängen zu müssen, suspekt sein sollten. Das heisst in der Praxis, dass Befugnisse delegiert und zurückgenommen werden können sollen. Das heisst, dass die Instrumentalisierung der staatlichen Institutionen zum partikulären Nutzen und die mit deren breiten Ausstreuung verbundene Ausweitung des Staatsvolumens zurückgeschraubt werden müssen.

 

... oder Partikularinteressen-Wettbewerb?

Machtansprüche sind immer und ausschliesslich auf partikulären Nutzen angelegt. Anders als es die immer noch umgesetzte Propaganda haben will: die Summe der Verwirklichung von Eigeninteressen dient nicht, sondern schadet der Allgemeinheit, und zwar immer massiver und zunehmend irreparabler. Nur taktisch werden Interessierte anderen Interessen zudienen. Wenn partikuläre Interessen kartelliert, dh dadurch durchgesetzt werden, dass partikuläre Interessen einander wechselweise fördern --gib, dann wird dir auch gegeben--, dann ist etwas faul im Staat Helvetien.

Auch wenn es so sein sollte, dass von wechselseitiger Partikularinteressen-Unterstützung im Milchkuh-Staat die grosse Mehrheit zunächst einmal profitiert. Denn jemand muss die Zeche bezahlen. Und wenn im Schnittpunkt der vereinigten Partikularinteressen sogar der Beschluss gelingt, die Bezahlung aufzuschieben -- man besichtige den Staatshaushalt des Bundes und der meisten Kantone --, dann bezahlen halt die Kinder und Enkel die Rechnung. Das ist selten Investition, meistens Betrug.

Denn wozu anders als zu partikulärem Nutzen kann Macht denn dienen? Warum sollte jemand für sich Macht suchen um der Allgemeinheit zu dienen? Wer glaubt zu sehen, was zum Guten aller dient, der muss sich mit andern, die das auch sehen können, einigen. Ist an Visionen etwas dran im Sinne eines allgemeinen Guts, dann muss es Gesinnungsgenossen und Unterstützung über einen beschränkten Kreis hinaus geben. In einem selbstorganisierten Gebilde werden Vorgänge, die wirklich dem Ganzen dienen, rasch und selbstverständlich zum Allgemeingut. Zu ihrer Durchführung --nicht Durchsetzung-- braucht es dann keine Macht.

Machtansprüche sind nichts als ein Symptom dafür, dass jemand sich zum Stehlen anschickt. Ob für sich allein oder für Gemeinschaften von Profiteuren macht keinen Unterschied.

 

Ein erstklassiger Exportartikel

Die Schweizer haben ein Verfahren der Machtneutralisierung erfunden, das ich langfristig für das nachhaltigste aller bekannten Verfahren halte. Auf Fairness im Sinn der Gentlemen von einst ist heute kein Verlass mehr, wie das britische Empire zeigt. Auch Checks and Balances, wie sie die amerikanischen Gründerväter ersonnen haben, können offenbar unterlaufen werden und verhindern nicht diese Anmassung, Weltmacht und Weltpolizei zugleich zu spielen.

Unser Verfahren, der Macht keine Chance zu geben, ist seine Fortsetzung wert. Jedenfalls im Kleinstaat. Eigentlich ein erstklassiger Exportartikel. Wenn wir ihn nicht verludern lassen würden. Freilich zum Verschenken, nicht zum Verkaufen. Viele Menschen auf der ganzen Erde sehnen sich nach einem Leben unter gebändigter, unter neutralisierter Macht.

 

Der Autor ist emeritierter Professor für Psychologie an der Universität Bern. Er ist verschiedentlich publizistisch tätig geworden. (http://www.psy.unibe.ch/ukp/langpapers/)

(Der Text wurde am 17.November 1998 von einem reputierten Blatt zur Publikation angenommen; im Januar 1999 wurden Änderungen, die weit über das Redaktionelle hinausgingen, zur Bedingung für die Publikation gemacht, die ich nicht annehmen konnte.)

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